FREEMAN/PETERSON/GOOCH: Der stille Schrei [DIS, erzählender Fallbericht]
Lucy FREEMAN / Emily PETERSON /
Nancy Lynn GOOCH: Der stille Schrei
(Hamburg 1989)
Neben SCHREIBER, CHASE und CASEY (siehe hier auf der Liste) eine der noch immer unverzichtbaren frühen Falldarstellungen zu DIS, berichtet das Buch von einer vielschichtigen, kreativen DIS-Therapie aus den Jahren 1974-86. Rigoroses Gewicht liegt dabei auf nachholenden Bindungserfahrungen, auf der emotionalen und kognitiven Nachreifung, indem die Therapeutin (Peterson, ursprünglich Lehrerin der Betroffenen Gooch) nach und nach die einflußreichsten Teilpersönlichkeiten 'adoptiert' bzw. von ihnen als 'Adoptivmutter' angenommen wird. Aus konkreten Alltagssituationen entstehen pädagogische und therapeutische Interventionen (im wesentlichen kognitiv orientierte Therapie, jedoch erinnert der therapeutische Kontakt mich in vielem an die 'interaktionelle Methode' von HEIGL-EVERS). "Ich glaube (..), daß es bei einer Behandlung multipler Persönlichkeiten einer Elternfigur und eines Therapeuten bedarf. Es wäre ideal, wenn der Therapeut nicht beide Rollen übernehmen müßte."
Therapeutisches Dogma ist zwar (wie seinerzeit noch üblich) die Orientierung an der bisher vorherrschenden Alltagspersönlichkeit ('Gastgeberin') als angenommener 'Kernpersönlichkeit'. Dennoch werden hier alle Teilpersönlichkeiten in ihrer Individualität voll anerkannt und angesprochen. Vorrangiges Therapieziel ist die Förderung von Verantwortungsbewußtsein bei jeder einzelnen.
Realistisch wird (für einzelne Situationen) die vielschichtige (und z.T. chaotisch anmutende) Kommunikation zwischen und mit den einzelnen Persönlichkeiten wiedergegeben, zumal hier 5 Personen unterschiedlicher beruflicher Funktion als Helferteam zusammengekommen sind und andererseits die dissoziativen Teilpersönlichkeiten teilweise in krassen Alltagssituationen agieren (Drogen, Strich, Alkohol). Nuanciert werden psychodynamische Abläufe im Hinblick auf die Gegenwart wie auch auf traumatische Empfindungen dargestellt. (Im Vordergrund des Buches steht jedoch nicht die traumatherapeutische Aufarbeitung, sondern die gegenwartsbezogene DIS-Therapie, insbesondere die schrittweise Integration von Persönlichkeiten.)
Situationsbeispiele machen die Vielschichtigkeit der strukturellen Verhältnisse bei Menschen mit DIS nachvollziehbar, z.B.:
"Willst du damit sagen, Sherry, daß Nancy nicht zurückkehren könnte, falls Jennifer sich integriert und Carmen an ihre Stelle tritt? Mit anderen Worten, daß Carmen die endgültige Persönlichkeit sein würde? Eine Persönlichkeit, die taubstumm ist?" (Carmen ist nicht taubstumm, sondern ein kataton in sich zurückgezogenes inneres Kind, - und auch die Gesprächspartnerin Sherry ist eine der Teilpersönlichkeiten.)
Nuanciert wird dokumentiert, wie im Verlauf einer DIS-Therapie das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Teilpersönlichkeiten immer neu hergestellt werden muß. Ein über 40 Druckseiten langer therapeutischer Disput zeigt ebenso ergreifend wie ermüdend den angstmachenden Weg vom Überleben zum Leben, bei dem ja eine vertraute Sicherheit zunächst – schrittweise – aufgegeben werden muß: "Ich habe euch von der wirklichen Welt erzählt. Dinge, die wahr sind." – "Aber wir wollen nicht in der wirklichen Welt leben."
Tiefes Verständnis für das Bewußtsein von multiplen Teilpersönlichkeiten zeigt sich auch in scheinbar nebensächlichen Momenten, - wie wenn z.B. ein Helfer fragt: "Was ist das für ein Gefühl, als Siebzehnjährige geboren zu werden?" – und die genervte Antwort der entsprechenden Persönlichkeit wiedergegeben wird: "Weiß ich doch nicht! Wie ist es denn, wenn man bei null geboren wird?"
Beeindruckt hat mich das therapeutische Umgehen mit der drogenmißbrauchenden Persönlichkeit, einem 15jährigen Jungen. Auch die ambivalenten Empfindungen von Persönlichkeiten im Hinblick auf die mögliche und (zunächst nur vom therapeutischen Team) angestrebte Integration werden nachvollziehbar dargestellt.
Kontinuierlich wird allerdings auch daran erinnert, daß die Teilpersönlichkeiten nur als "Verkleidungen" der (angeblichen) Kernpersönlichkeit zu verstehen seien. Glücklicherweise wirkt sich dieses wissenschafts-idelogische Dogma innerhalb dieser Therapie kaum aus; durchgängig werden dennoch die Teilpersönlichkeiten als gleichberechtigte Menschen von eigenem Recht ernstgenommen. (Ähnlich wie bei SCHREIBER: 'Sybil'; - wobei im übrigen Cornelia Wilbur, die Therapeutin von Sybil, kurzzeitig auch in diese Therapie einbezogen war.)
Mehrfach wird betont, daß "in Wirklichkeit natürlich Nancy" (die Gastgeberpersönlichkeit) dies oder jenes gemacht oder gewollt habe. Allerdings wird für den Leser deutlich, daß dieses Bemühen der Therapeutin, sich eine nur abgeleitete Realität der anderen Teilpersönlichkeiten einzureden, vom organischen therapeutischen Prozeß seinerzeit allenfalls abgelenkt hat (zum Glück nicht sehr).
Für den unbefangenen Lsser ist offensichtlich, daß Nancy, das angebliche "wirkliche" Ich, im wesentlichen eine Funktionsträgerin ist, - die im Verlauf der Therapie zur symbolischen Hülle wird für die schrittweise Integration der anderen, vitaleren Persönlichkeiten.
Demgegenüber die Therapeutin: "Natürlich wußte ich, daß sie Teile von Nancy waren, aber emotional sah ich sie als einzelne Personen." - Dieser authentische emotionale Kontakt zu den Teilpersönlichkeiten, zeigt sich ohne Zweifel als ungleich wichtiger für den therapeutischen Fortschritt als die ideologische Fixierung auf ein angenommenes singuläres 'Ich' im psychoanalytischen Sinn. Ohne das beständige und ganz und gar individualisierte Bindungsangebot an die einzelnen Teilpersönlichkeiten wäre diese Therapie meines Erachtens kaum erfolgreich ausgegangen (siehe auf dieser Liste: GAHLEITNER).
Ein ganz und gar singuläres Buch zum Thema DIS, allerdings aufgrund der dargestellten verzwickten kommunikativen Dynamik wohl nicht ganz einfach nachzuvollziehen für Außenstehende.