GAHLEITNER/GUNDERSON: Frauen Trauma Sucht [Fachbuch]
Silke Birgitta GAHLEITNER, Connie Lee GUNDERSON (Hrsg.): Frauen Trauma Sucht
(Kröning 2008)
Mehr und mehr spricht es sich herum, daß Frauen und Männer aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisation sowie ihrer verschiedenen Lebensbedingungen im allgemeinen auch verschieden umgehen mit sozialen Erfahrungen. Dies gilt selbstverständlich auch im Bereich von seelischen Traumatisierungen, wird aber bei der Konzeption von Therapieansätzen bislang erst wenig berücksichtigt. Eng damit verbunden ist die therapeutisch schwer zu handhabende häufige Koinzidenz von Sucht und Trauma.
Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit der Klinischen Sozialarbeiterin und Traumatherapeutin GAHLEITNER (Berlin) mit mehreren US-amerikanischen Sozialarbeiterinnen/Psychologinnen und stellt Praxiserfahrungen und Forschungsergebnisse dieser gendersensiblen Praktikerinnen mit sozialweissenschaftlichem Hintergrund zusammen. Es enthält eine Fülle von Denkanstößen und Hinweisen auf integrative Therapieansätze Sucht/Trauma, die auch jenseits der geschlechtsspezifischen Orientierung nützlich sein können. - Als besonders wesentlich empfand ich die ausführliche, durch Forschungsergebnisse belegte Darstellung von salutogenetischen Perspektiven einer gendersensiblen Traumatherapie. GAHLEITNER verdeutlicht, daß gerade sexuelle Traumata die betroffenen Frauen auf die qua Sozialisation vorgegebene Rolle als Sexualobjekt und Opfer festlegen. Männliche Betroffene dagegen neigen dazu, die Opfer-Erfahrung zu kompensieren mit einer tendenziell destruktiven Überbetonung der Männerrolle. Auf die weitere Lebensgestaltung hat beides entscheidene Auswirkungen. In konventionellen therapeutischen Ansätzen werden Frauen jedoch eher aufs Neue orientiert auf emotionsfokussierte, männliche Betroffene auf eher problemorientierte Verarbeitung! Weil ihnen das vorgeblich "näherliegt". Demgegenüber gibt es gute Erfahrungen, wenn Frauen dabei unterstützt werden, sich von der Fixierung auf den Opferstatus abzuwenden und Kampfgeist, Rachegefühle, aber auch problemlösende Strategien und Abgrenzungsfähigkeiten zu entwickeln; für Männer gilt das entsprechend Komplementäre. - Es geht also um "Dekonstruktion" von geschlechtsbezogenen Rollen im Sinne von Judith Butler.
Ein zentraler Aufsatz des Bandes (von Linda M. HARTLING) stellt einen erprobten beziehungssensiblen Behandlungsansatz für Frauen mit Suchtproblematik dar. Er widerspricht der konventionellen therapeutischen Orientierung an "Selbständigkeit" und "Unabhängigkeit", bei dem es in der Suchtprävention und -therapie vorrangig die Gefahren beachtet werden, die in Beziehungen liegen können ("Abhängigkeit", "Co-Abhängigkeit", "Gruppenzwang"). Beachtet werden muß, daß Drogen (vor allem Alkohol) gerade bei Frauen sehr oft der Bewältigung von Störungen in Beziehungen dienen sollen; im Untergrund liegt das natürliche und existenzielle Bedürfnis des Menschen nach Bindung und Beziehung! Hier eröffnet sich eine präventive Perspektive, die nicht beschränkt ist auf professionelle HelferInnen. (In der DDR gab es lange Zeit das Bemühen, alkoholgefährdete KollegInnen zu stabilisieren durch das Einbinden ins Arbeitskollektiv; - in der westlichen Jeder-gegen-jeden-Gesellschaft muß die heilende Funktion sozialer Verbundenheit vermutlich viel grundlegender wieder neu entdeckt werden.)
Andere Aufsätze beschäftigen sich mit den Verständigungsschwierigkeiten zwischen Sucht- und TraumatherapeutInnen, mit dem verwirrenden Nebeneinander unterschiedlicher Dfefinitionen von Sucht; es werden praktische Erfahrungen dargestellt aus der parteilichen Arbeit mit Frauen, die Gewalt erfahren, und Silke GAHLEITNER (u.a.) skizzieren Erfahrungen mit beziehungsorientierter Arbeit in einer theapeutischen Mädchen-WG. (Dazu gibt es von ihr ein sehr empfehlenswertes Buch, siehe hier auf der Liste.)
Alle Beiträge sind etwas sozialwissenschaftlich-trocken; als sinnlich greifbare und dabei nicht weniger differenzierte Lektüre möchte ich sehr gerne ein rororo-Bändchen von 1984 empfehlen: Christa MERFERT-DIETE/Roswitha SOLTAU (Hrsg.): 'Frauen und Sucht'.
Siehe auf dieser Liste: LÜDECKER/SACHSSE/FAURE und KUNZKE