KREGER/SHIRLEY: Das Schluss-mit-dem-Eiertanz-Arbeitsbuch [Borderline]
Randi KREGER / James Paul SHIRLEY: Das Schluss-mit-dem-Eiertanz-Arbeitsbuch
Für Angehörige von Menschen mit Borderline
(Bonn 2007)
Diagnostisch relevante Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstruktur sind bestimmte frühe Abwehrmechanismen, die u.a. zu typischen Beziehungs- und Kommunikationsstörungen führen. Solche Störungen sind Thema des Arbeitsbuches.
In der Praxis führen leider oft bereits die unspezifischen Anhaltspunkte gemäß ICD 10/ DSM IV (nicht selten fälschlich) zu einer Borderline-Diagnose. Andererseits gibt es Betroffene mit Borderline-Struktur, bei denen andere Störungen im Vordergrund stehen. Wutausbrüche und aggressive Wortgefechte kommen bei ihnen nicht vor. Diese Unterschiede werden im vorliegenden Buch nicht angesprochen. Auch die psychotraumatologischen Erfahrungen mit dissoziativen Persönlichkeitsanteilen (Ego States) als struktureller Grundlage des Borderline-Verhaltens werden ignoriert. Gerade sie würden jedoch die Aufmerksamkeit von Angehörigen auf kindliche Persönlichkeitsanteile lenken. Erfahrungsmäß trägt dies wesentlich bei zu empathischem Kontakt mit Betroffenen.
Verständnis für Menschen mit Borderline wird im Buch größtenteils gleichgesetzt mit angemessenem Umgang mit kommunikativen Störungen. Betroffene leiden jedoch auch unabhängig von Beziehungskontakten; dies wird fast völlig ignoriert bzw. sogar negiert. Von "Waffen im Arsenal" des Borderliners zu sprechen oder daß TherapeutInnen "hinters Licht geführt werden", verkennt die Empfindungen der/des Betroffenen völlig. Eine entsprechende Frontstellung, wie sie aus dem Alltagsstreß von Angehörigen nachvollziehbar ist, wird durch solche Formulierungen bestärkt. Borderline-Betroffene mit umfassender dissoziativer Depersonalisation/ Derealisation, die gerade darunter leiden, daß sie ihr Leid, ihre innere Leere oder Zerrissenheit nicht darstellen können, die meist sozial "funktionieren" und von daher in noch größerem Rechtfertigungsdruck sind, kommen in diesem Arbeitsbuch ebensowenig vor wie in dem zugrundeliegenden Ratgeber.
Mehrfach finden sich Hinweise auf Kinder mit (angeblich) Borderline. Diese Diagnose soll jedoch bei Kindern/Jugendlichen nicht gestellt werden, da in diesem Alter noch nicht zweifelsfrei unterschieden werden kann zu anderen (auch passagèren) Entwicklungsstörungen. (So zeigen einige Beispiele Verhaltensweisen, wie sie zu "normalen" pubertären Machtkämpfen gehören.) – Dies bestärkt eine fatale Tendenz von Eltern und Erziehern, "schwierige Kinder" abzuschieben an psychiatrische Profis! Folgerichtig wird an mehreren Stellen völlig unkritisch auf die Möglichkeit hingewiesen, Borderliner "in die Klinik einzuweisen", dies auch in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Dabei geht es offenbar nicht um Suizidversuche, erhebliche Selbstverletzungen oder lebensbedrohliche Anorexia, - ebenfalls typische Borderline-Verhaltensweisen, die im Buch nirgendwo thematisiert werden. Aber auch für diese Symptome wünschen Angehörige sich Rat und Hilfestellungen!
Das sozial störende Verhalten von Borderlinern wird explizit als irrational dargestellt: "Je klüger ein Nichtborderliner ist, desto schwieriger ist es, das kontraproduktive Verhalten des Borderliners zu verstehen." (221/2) – Das ist haarsträubend!
Andererseits jedoch ist das Arbeitsbuch ein an Nuanciertheit kaum zu übertreffender Ratgeber zum interaktionellen Verhalten von Betroffenen mit Borderline-Syndrom und zu Möglichkeiten, in privaten Beziehungen angemessener umzugehen mit typischen rhetorischen Abwehrmechanismen und Projektionen.
Gewöhnlich versuchen wir, unbefriedigende Aspekte uns wertvoller Beziehungen zu ignorieren oder den Mangel zu rationalisieren. Im Kontakt mit Borderlinern überfordern wir uns auf diese Weise unweigerlich. Systematisch und methodisch gelungen werden Nichtborderliner dabei unterstützt, sich solche Zusamenhänge bewußt zu machen. Der langjährige enge Kontakt mit entwertenden, emotional erpresserischen und dramatisierenden Borderlinern führt bei Angehörigen meist zu erheblichen Selbstwertproblemen. Sich darüber bewußtzuwerden und wieder zu lernen, solidarisch zu sein mit den eigenen Bedürfnissen und Empfindungen, ist Voraussetzung für ein angemesseneres Verhältnis zu dem Betroffenen. Die treffend dargestellte unfreiwillige Situationskomik typischer Wortgefechte, Projektionen und Übertreibungen, denen wir als Angehörige im Ernstfall zunächst ziemlich hilflos ausgeliefert sind, tut richtig gut! Auch sowas hilft, die eigenen Grenzen wieder zu spüren. – Andererseits wird auch die schwere und oft tabuisierte Überlegung, den Beziehungskontakt mit einem Borderline-Menschen ggf. abzubrechen, durch kluge Entscheidungshilfen (Fragen, Alternativen) erleichtert.
Die Fülle von zutreffenden, hilfreichen, nuancierten Hinweisen, Übungsschritten, Selbst-Tests und Vorschlägen ist zweckmäßig und folgerichtig gegliedert. Für Angehörige (insbesondere PartnerInnen) von massiv rhetorisch agierenden Borderlinern kann der Ratgeber zum Handbuch werden, um einzelne Aspekte immer wieder im Alltag nachzulesen und zu vertiefen. (Die besonders schwierige Situation zu Borderline-Elternteilen wird unzureichend thematisiert.)
Bei aller Kritik: Für den Bereich des interaktionellen Verhaltens bei Borderline-Betroffenen mit entsprechender Symptomatik unersetzbar und sehr empfehlenswert für Angehörige und professionelle HelferInnen.
Es gibt kaum Überschneidungen mit dem ursprünglichen Buch 'Schluss mit dem Eiertanz' (MASON/KREGER, siehe hier auf der Liste), das weiterhin nützlich sein kann.
[Erstpublikation dieser Rezension in: SOZIALE PSYCHIATRIE 119, Januar 2008]