MASSON, Jeffrey M.: Was hat man dir.. [Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie]
Jeffrey M. MASSON: Was hat man dir, du armes Kind, getan? -
Siegmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie
(Reinbek 1984)
In seinem Vortrag 'Zur Ätiologie der Hysterie' berichtet Sigmund Freud 1896 von seinen therapeutischen Erfahrungen mit "hysterischen" Patientinnen. Seine Schlußfolgerung ist, daß in jedemfall familiäre sexuelle Grenzüberschreitung ("Mißbrauch", Gewalt, "Verführung") im Kindesalter Ursache der entsprechenden Symptome ist. Der Vortrag stieß seinerzeit auf vehemente Abwehr der psychiatrischen Fachöffentlichkeit. Seit 1897 revidierte Freud seine Ansicht. Er entwickelt seine Triebtheorie, nach der Erinnerungen an sexuelle Grenzüberschreitungen, insbesondere durch den eigenen Vater, zumeist Ausdruck der entwicklungspsychologischen Dynamik sind, also "Phantasie". Diese Einschätzung wurde von den psychoanalytischen Therpeuten für die nächsten 100 Jahre gern übernommen. -
Vorrangig Jeffrey Massons fundierter Quellenforschung ist zu verdanken, daß diese Auffassung Schritt für Schritt revidiert wurde und mittlerweile zu den fachlichen Irrwegen Sigmund Freuds gezählt wird. - Allerdings wurde der Autor, selbst Psychoanalytiker, nach Veröffentlichung dieses Buches 1984 ähnlich brutal diffamiert wie seinerzeit Freud. Er verlor seine Stellung als Leiter des Sigmund Freud-Archivs und distanzierte sich später grundlegend von der Psychoanalyse. (Also dieselbe Konsequenz wie bei Alice MILLER, auch eine ehemalige Psychoanalytikerin; siehe hier auf der Liste.)
Sein Buch steht in jeder Literaturliste zum Thema, wird aber wohl kaum mehr gelesen. Dabei ist es eine bis heute durch nichts zu ersetzende Fundgrube zur Geschichte der Psychotraumatologie!
Zum einen wird darin deutlich, daß in Frankreich bereits in der Generation vor Freud engagierte Psychiater/Gerichtsmediziner versuchten, Alarm zu schlagen im Hinblick auf die offenbar massenhaft vorkommende sexuelle Gewalt von Angehörigen gegen (teilwese sehr junge) Kinder. Zu Unrecht vergesen ist beispielsweise Ambroise Tardieu (1818-1879), der in seiner erstmals 1857 erschienenen 'Etude médico-légale sur les attentats aux mœurs' darauf aufmerksam macht, wie häufig Sexualdelikte an Kindern begangen werden. Masson zitiert umfassend weitere Aufsätze und Bücher, die sich in Frankreich zu jener Zeit mit dem massenhaften Vorkommen von Gewalt gegen Kinder, meist durch Bezugspersonen, befaßt. Er belegt, daß Freud diese Arbeiten kannte.
Sandor FERENCZI (siehe auf dieser Liste) versuchte 1932 als einziger Psychoanalytiker, die fachliche Aufmerksamkeit zurückzulenken auf die Tatsache von inzestuösen Realtraumatisierungen als Grundlage vieler psychosomatischer Symptome. (Auch für Ferenczi waren die Folgen fachliche Ausgrenzung und Diffamierung durch die Gralshüter der psychoanalytischen Lehre; Masson dokumentiert Einzelheiten.) - Zu Unrecht vergessen ist in diesem Zusammenhang wohl auch eine von Ferenczis Klientinnen, Elizabeth Severn, die später selbst als Therapeutin arbeitete. In ihrem offenbar ziemlich unorthodoxen Buch 'The discovery of the Self: A Study of Psychological Cure' (1933) stellt sie sich als wesentliche Urheberin für Ferenczis Revision der psychoanalytischen Therapie dar. Wie auch immer, - die von Masson zitierten und referierten Einzelheiten machen neugierig auf ihr Buch..
Last not least bleibt Freuds ursprüngliche Argumentation zur Existenz von Realtraumatisierung in seinem Vortrag 'Zur Ätiologie der Hysterie' von 1896 (sowie in zwei damit zusammenhängenden Aufsätze und einigen Briefen) auch in Einzelheiten relevant bis heute. Die derzeitige "False Memory"-Hypothese (siehe auf dieser Liste: SCHALLECK) zeigt sich weitgehend als Neuaufguß der damaligen Argumentation gegen die häufige Existenz von sexuellen Realtaumatisierungen im Kindesalter; kein Wunder, stehen doch ähnliche Interessenkoalitionen dahinter.
Jeffrey Massons mutige Arbeit, die ihm offenbar kaum etwas anderes als Ärger eingebracht hat, bleibt für mich ein kostbarer Baustein einer Psychotraumatologie im Interesse der Überlebenden von sexueller Gewalt.