NEPEIS, Barabara: Mein Leben als "Multiple"
Barbara NEPEIS: Mein Leben als "Multiple" oder
Ein endloser Kampf
(Jena/Plauen/Quedlinburg 2002; Verlag Neue Literatur)
Ein 4jähriges Mädchen wird von fremden Männern auf einem Spielplatz angesprochen, weggelockt. Vor seinen Augen werden Katzen getötet, um ihm zu zeigen, was mit ihm (und mit dem kleinen Bruder) geschieht, falls es "etwas verrät" - und falls es nicht wiederkommt: gezielt wird es "programmiert". Das Kind kann nicht anders, als wiederzukommen - und erleidet rituelle Vergewaltigungen, sadistische Folter, erlebt satanisch orientierte Gewalt - einschließlich Mord. Die kleine Barbara entwickelt unterschiedliche Teilpersönlichkeiten, um diese schlimmstmöglichen Traumatisierungen zu überleben: es wird eine "multiple Persönlichkeit". Der Täterkontakt besteht über die gesamte Kindheit und Jugend. Einzelne Teilpersönlichkeiten leben daneben das "ganz normale Leben" weiter. Barbara Nepeis macht eine Ausbildung, heiratet, bekommt drei Kinder. Seelische Probleme werden geleugnet, vertuscht, verdrängt. Erst Jahre später tritt mehr und mehr von dem abgespaltenen Schrecklichen an die Oberfläche: Alpträume (auch im Wachzustand), beängstigende Körperempfindungen, rätselhafte Schmerzen. Psychiatrieaufenthalte folgen, Fehldiagnosen, Retraumatisierungen in der Station, Abgestempeltwerden als Simulantin oder als psychotisch. Zufällig trifft Barbara Nepeis 1994 auf einen Psychoanalytiker, der schonmal etwas gehört hat von dem Krankheitsbild "Dissoziative Identitätsstörung" (so der heutige Begriff). Er nimmt die Patientin ernst und unterstützt sie dabei, Schritt für Schritt Klarheit zu bekommen: Was war damals? Was (oder wer) ist da jetzt in mir?
Der Alltag geht immer weiter. Scheidung von dem (schwer narzißtisch gestörten) Ehemann; Kampf um Hausrat und die Kinder; die Traumatisierungen können nicht bewiesen werden; Gerichtsverhandlungen wegen Unterhalt und mit Behörden; Leben von Sozialhilfe; zunächst häufig wechselnde therapeutische Bezugspersonen; Kinder sind konfrontiert mit multiplen Innenpersonen..
Daß die Dissoziative Identitätsstörung aufgrund vergleichbar schrecklicher Traumatisierungen entsteht, ist heutzutage gesicherter Stand der psychotraumatologischen Forschung. Daß Überlebende im Erwachsenenleben meist viele Jahre lang um Anerkennung und angemessene Hilfe kämpfen müssen, wird zunehmend auch öffentlich bekannt. (Siehe www.initiative-phoenix.de) - Allerdings gibt es nur sehr wenige Betroffene, die neben ihrer auch im besten Fall viele Jahre dauernden Heilungsgeschichte noch die Kraft und den Willen haben, ihre Situation für die Öffentlichkeit zu dokumentieren.
Trotz erster therapeutischer Erfolge war das "multiple System" Barbara Nepeis 1998 dabei zu resignieren angesichts des offenbar "endlosen Kampfes". Als letztes Lebensziel sollte ein Buch entstehen aus den Tagebuchaufzeichnungen der vier Jahre, um auf diese Weise vielleicht doch beitragen zu können zu mehr Verständnis der Öffentlichkeit für Opfer und Überlebende solcher Gewalttaten. Danach war - im Einverständnis der Teilpersönlichkeiten - nur noch der Suizid geplant.
Das auf diese Weise entstandene Buch erschien 2002 im Verlag Neue Literatur Jena/Plauen/Quedlinburg. Es hat 400 Seiten, enthält umfassende Aufzeichnungen verschiedener Persönlichkeiten, dazu erläuternde Kommentare der "Aufklärerin Barbara", Reproduktionen von erschütternd deutlichen Gemälden und Tonarbeiten einzelner Teilpersönlichkeiten, enthält eine Namenlisten (mit Eigenschaften und Funktionen der Anteile), dazu das Nachwort eines Bruders. - Es ist eine der differenziertesten Dokumentationen einer Betroffenen mit DIS, die ich kenne, und in jedemfall das umfassendste und klügste, das bislang auf deutsch geschrieben wurde!
Dieses Werk bietet Belegstellen für ein ganzes Fachbuch zur Situation ehemaliger Traumaopfer mit DIS. - Sinnlich nachvollziehbar wird die alltägliche Verwirrung im Innenleben multipler Menschen; diffuse Selbsterfahrungen tauchen aus dem Nebel auf und verschwinden wieder, körperliche Traumaerinnerungen und Bilder, unerklärliche suizidale und Selbstverletzungs-Impulse. Von der Betroffenen (also dem multiplen System) selbst konzipierte Stabilisierungstechniken werden auch für Außenstehende nachvollziehbar. Schritt für Schritt werden die Leser in die manchmal verwirrende Vielschichtigkeit eines multiplen Systems geleitet. Unterschiedliche Schrifttypen helfen uns, die Übergänge zu anderen Teilpersönlichkeiten mitzubekommen.
Die damalige therapeutische Arbeit ist nicht Thema des Buches; vielmehr dokumentiert es anhand der originalen Tagebuchaufzeichnungen rund zehn Jahre einer qualvollen Suche nach Verständnis für sich selbst und nach fachlicher Unterstützung. Es zeigt den erschütternden Überlebenskampf, wenn in einer schwersttraumatisierten Frau allzu vieles aus der Vergangenheit wach wird und nach außen drängt ohne eine angemessene therapeutische Aufarbeitung. Aufgrund seiner hochdifferenzierten Darstellung können vermutlich auch traumatherapeutisch arbeitende Profis einiges daraus lernen für den Kontakt mit "Multis". Als Einstiegslektüre in das Thema möchte ich es aufgrund seiner Dichte und seines Umfangs zwar nicht empfehlen, wer aber dran bleibt und sich bemüht, die einzelnen Momente, Empfindungen, Erfahrungen und Zusammenhänge wirklich nachzuvollziehen, der hat am Ende viel verstanden von "Multipler Persönlichkeit" - ohne irgendwelche psychotherapeutischen Fachkenntnisse zu benötigen.
Dieses Buch erschien im Jahr 2002 und ist mittlerweile vergriffen. Der VERLAG NEUE LITERATUR hätte gerne eine Neuauflage gestartet, was aber bei einem Werk dieses Umgangs auch eine Kostenfrage ist. Aus diesem Grund gab es 2010/11 einen mehrfach verlängerten Aufruf zur Subskription. Leider ergab er nicht genügend Vorbestellungen für die Neuauflage.