SCHREIBER, Flora Rheta: Sybil [DIS, erzählender Fallbericht]
Flora Rheta SCHREIBER:
Sybil. Persönlichkeitsspaltung einer Frau
(Bern/München 1977)
Diese früheste Dokumentation einer noch heute akzeptablen DIS-Therapie (durch die Psychoanalytikerin Cornelia Wilbur) wurde (auf hohem schriftstellerischen Niveau) verfaßt von einer Fachjournalistin, die guten Kontakt hatte sowohl mit der Betroffenen (Shirley Ardell Mason, 1923-1998) als auch mit der Therapeutin.
Obwohl zu diesem Zeitpunkt (1954-65) noch keine brauchbaren therapeutischen Erfahrungen veröffentlicht waren, war sich C. Wilbur von Anfang an darüber im klaren, "daß es notwendig sein würde, jedes einzelne Ich als eine Person aus eigenem Recht zu behandeln. Dafür würde sie ungeheure Zeitopfer bringen und ihre gewohnten Freudschen Therapiemethoden modifizieren müssen, um jedes Stückchen Spontaneität nutzbar zu machen und mit seiner Hilfe zur Wahrheit vorzustoßen, die hinter diesen Ichs verborgen lag." – eine angemessene Herangehensweise, die leider noch heute nicht bei allen TherapeutInen selbstverständlich ist.
In der Folge entstand nuanciertes Verständnis für die subjektive Befindlichkeit der einzelnen Persönlichkeiten. So gesehen ist das Buch noch immer eine der besten Einführungen in die emotionale Realität des Vieleseins - dies gerade angesichts der zunehmenden Vielfalt von Therapiemethoden, von Techniken, Manualen und miteinander konkurrierender "Schulen" auch im Bereich der Traumatherapie.
Obwohl die Therapeutin sich durchgängig bemühte, ihre Therapie mithilfe der hierfür wenig geeigneten psychoanalytischen Kategorien zu strukturieren und zu begründen, überwog zum Glück ihre sensible, flexible Aufmerksamkeit für die Realität, sodaß zuletzt tatsächlich eine Integration aller Teilpersönlichkeiten erreicht wurde.
Cornelia Wilbur orientierte sich relativ frühzeitig an der bislang vorherrschenden Alltagspersönlichkeit als (angenommenem) "wahren" Ich, in das es die anderen Teilpersönlichkeiten (die sie als personifizierte "Abwehrmechanismen" verstand) zu integrieren galt. Dies funktionierte in diesem Fall, jedoch kann eine solche Festlegung zu Beginn der Therapie kein Vorbild mehr sein! Die Vielzahl der mittlerweile veröffentlichten Therapieberichte zeigt, daß gerade eine bislang vorherrschende Alltagspersönlichkeit ('Gastgeberin') sehr oft eine reine Funktionsträgerin ist. Die verfrühte Frage nach einer 'Kernpersönlichkeit' führt die Dis-Therapie leicht in die Irre, da tatsächlich jedes Multiple System auch in dieser Hinsicht unterscheidlich organisiert sein kann ('Strukturelle Dissoziation').
Im übrigen wird die Strukturelle Dissoziation (siehe auf dieser Liste: van der HART/NIJENHUIS/STEELE) bei Sybil nuanciert nachvollziehbar (wenn auch immer wieder – etwas mühsam – mit psychoanalytischen Kategorien erklärt.)
Obwohl die Autorin (und wohl auch die Therapeutin) die DIS-Therapie bei Sybil konsequent als "Analyse" bezeichnet, nehmen hypnotherapeutische Elemente großen Raum ein. Insbesondere wurden amnestische Barrieren auf diese Weise aufgelöst. Bei der offenbar recht zügig abgewickelten Integration hatte die Altersprogression etlicher Persönlichkeiten (auf ein einheitliches Innenalter) durch Hypnose wichtigen Anteil.
Deutlich wird (im Zusammenhang mit einer möglichen Integration/Gesundung) eine (wohl typische) fundamentale Angst von Persönlichkeiten, weniger Zuwendung von der Therapeutin zu bekommen, wenn sie keine 'Kinder' mehr sind bzw. bei einer Gesundung die Therapeutin zu verlieren. Dies belegt den hohen Stellenwert der nachholenden Bindung bei Traumatherapie! (Siehe auf dieser Liste: GAHLEITNER.)
Die damalige Kategorisierung der "Multiplen Persönlichkeit" als "Psychoneurose" im Sinne einer "Grande Hystérie" (mit accent!) kann als historisches Beiwerk hingenommen werden; dennoch wird die kontinuierliche Psychotraumatisierung im Kindesalter anerkannt und explizit beschrieben.
An einer Verfilmung des Buches 1976 war die Therapeutin Cornelia Wilbur beteiligt. Obwohl hier, dem Medium gemäß, die Zusammenhänge nochmal weiter vereinfacht wurden, ist der Film im Wesentlichen angemessen und sehr sehenswert. Den beiden Schauspielerinnen gelingt es, sowohl die Situation der Betroffenen als auch die grundlegende Beziehungsaufnahme einer Therapeutin auch für Außenstehende vorstellbar zu machen. - Auch eine zweite Verfilmung im Jahr 2007 ist sehenswert.
Manchmal tauchen Presseberichte auf, nach denen das Buch eine Fälschung sei [SPIEGEL 44/1998, siehe auch LICHTSTRAHLEN 26]. Eine neue Publikation von Debbie Nathan ('Sybil Exposed', 2001) legt den Schwerpunkt ihrer fundamentalen Kritik auf massive Grenzüberschreitungen der Therapeutin, unter Einsatz von Medikamenten, Elektroschocks und verbalem Einreden von Mißbrauch. Grundlage dieser Recherchen seien Aufzeichnungen der Journalistin Schreiber. Die beteiligten Frauen leben mittlerweile alle drei nicht mehr. Die kritischen Behauptungen kann ich nicht nachprüfen, habe aber keinen Anlaß, meine Empfehlung der Darstellung des ursprünglichen Buches zu relativieren.