Theo Harych: HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN
Theo Harych (1903-1958) wurde geboren in einem Dorf in der damaligen preußischen Provinz Posen; heute gehört die Region zu Polen. Muttersprache der Eltern war polnisch. Sein Vater war Landarbeiter, die Familie hatte neun Kinder. Theo war Hütejunge und Knecht, nur zeitweilig besuchte er die Dorfschule. Seine Kindheit war geprägt von Gewalt und Lieblosigkeit, von Hunger und Vernachlässigung. 1919 floh er zu einem älteren Bruder nach Mitteldeutschland, arbeitete in einer Zuckerfabrik und im Braunkohlebergwerk. Theo Harych trat der Bergarbeitergewerkschaft bei und war 1921 beteiligt am Mitteldeutschen Aufstand. Später war er Wanderbursche, Diener, Kraftfahrer. Er machte Wahlpropaganda für die KPD, arbeitet als Hilfsschlosser, macht sich selbständig mit einem Dreirad-Lieferwagen. Schon zu dieser Zeit schrieb er Erfahrungen und Empfindungen auf Zettel und in Schulhefte.
Theo Harych wurde ein Schriftsteller der jungen DDR. Der hier erstmalig wiederveröffentlichte autobiografisch begründete Roman erschien 1951 im Verlag Volk und Welt.
HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN ist eine noch heute sozialgeschichtlich bdeutsame Quelle. Der romanhafte Bericht orientiert sich weitgehend an Theo Harychs bitterer Kindheit. Zweifellos wollte der Autor in unterschiedlichen, repräsentativen und zugleich unterhaltsamen Facetten erzählen von Alltag und Befindlichkeiten der (armen) Bevölkerung solcher ländlicher Gebiete – und von Gewalt oder Verführung durch mächtige Instanzen, denen sie hilflos ausgesetzt waren.
Die schrecklichen, von Härte, Abgestumpftheit und Selbst- und Menschenverachtung bestimmten Rationalisierungen einzelner Dörfler schildert der Autor aus deren Blickwinkel; wodurch er das ansatzweise Nachfühlen solcher seelischen Zerstörungen erleichtert. Aber warum sind sie so? Weil ihre Lebensverhältnisse ihnen extrem schwer machen, mitmenschliche Sensibilität zu entfalten. Wenn Generation für Generation die konsistente Botschaft der umfassenderen gesellschaftlichen Situation lautet:"Auf dich als Einzelnen kommt es nicht an, sieh zu, daß du überlebst!", wird sich oft nur Selbsthaß, Verachtung von noch armseligeren Menschen (einschließlich der eigenen Kinder) oder Resignation, Mißtrauen und Zynismus entwickeln.
Zweifellos war die Kindheit für Theo eine unablässige Folge psychischer Traumatisierungen, keineswegs nur im Elternhaus. Kompensatorische, heilsame Ressourcen sind kaum zu erkennen. Erst als Theo sich nach dem zehnten Lebensjahr Überlebensmöglichkeiten außerhalb des Elternhauses suchen muß, trifft er (bei weiterhin leidvollen Erfahrungen) gelegentlich auf Menschen, die es gut mit ihm meinen – oder ihn zumindest als Mitmenschen ernstnehmen. Daß selbst winzige Momente von Unterstützung und Zuwendung (sei es selbst mit einem Rehkitz) in solcher höllenhaften Kindheit entscheidend zum Aufbau innerer Ressourcen beitragen, zu Vertrauen, Beharrlichkeit und Lebenswillen, wird beim Lesen nachvollziehbar.
In der achtsamen Beschreibung auch der bösen und zutiefst deprimierenden Erfahrungen liegt Klage und Trauer, die Theo Harych im Erzählen und Aufschreiben wohl immerhin teilweise zulassen konnte. Und Anklage – die sich jedoch weniger gegen einzelne Personen richtet, sondern eher gegen grundlegende Machtzusammenhänge. Übermächtige, strukturelle Unterdrückungsmechanismen begünstigen bei uns allen destruktive Selbstschutz- und Widerstandsformen. Männer wie Frauen werden böse und falsch oder flüchten sich in Ideologien – damals, heute und überall auf der Welt, in jeweils unterschiedlichen Ausformungen. Bei uns nur besser kaschiert durch individuelle Ersatzbefriedigung, normalpathologischen Konsens , sozialadministrative Maßnahmen und medienrhetorische Umkonnotierung. Und genauso wie damals verkriechen sich auch bei uns heutzutage solche von Mitmenschen und äußeren Umständen langfristig zu boden geknüppelte Personen; gerade sie können sich Unterstützung von außen nicht mehr vorstellen, eigene Aktivität gleich garnicht. Sie zerfleischen sich gegenseitig oder richten sich ein in den schlimmsten Lebensbedingungen, buchstäblich bis in den Tod.
Unterdrückte Wut über menschenunwürdige Lebensumstände, meist in Verbindung mit unangemessenen Sozialisationsbedingungen in der Kindheit, wird von Männern wie Peter Harych, dem Vater, oftmals in Alkohol ertränkt und in unkontrollierten Ausbrüchen ausagiert, die wiederum durch Alkohol begünstigt werden. Mangelhafte seelische Strukturiertheit, lebenslang fehlende Bestätigung ihres Selbstwertgefühls, Überforderung und Hilflosigkeit wird kaschiert und kompensiert mit Trotz, Grobheit, Brutalität, Alkoholmißbrauch und (nicht zuletzt) frauenfeindlichem Verhalten. Die Selbstverachtung wird fast beliebig auf jeden Mitmenschen projiziert; durch die rhetorische Bestätigung von Saufkumpanen werden solche Reaktionsweisen munitioniert; nicht selten wird die Ehefrau für den Alkoholismus ihres Mannes verantwortlich gemacht. Auch periodische, konsequenzlose Reue-Impulse gehören zur typischen Psychodynamik unreifer, narzißtisch verwundeter Männer, die eigentlich Orientierung suchen und eine Mutter. Bis in die Wortwahl hinein finden sich die berichteten aggressiven Verhaltensweisen auch heutzutage, auch bei uns. Jede Mitarbeiterin eines Frauenhauses kann es bezeugen. Natürlich auch die Opfer und Überlebenden von terrorististischer häuslicher Gewalt – die allerdings die erlittene Realität oft selbst Ämtern und Sozialarbeitern gegenüber verharmlosen, sogar noch in retrospektiven autobiografischen Veröffentlichungen: weil sie sich schämen, weil sie verdrängen wollen und weil sie davon ausgehen, daß ihnen die Wahrheit eh nicht geglaubt würde.
Schon als ethnografisch lesenswerter Zeitzeugenbericht wäre HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN wert, wiederveröffentlicht zu werden. Es ist aber zugleich eine exemplarische Fallstudie über grundlegende soziale und psychologische Hintergründe und Zusammenhänge von dysfunktionalen Sozialisationsbedingungen und familiärer Gewalt – auch bei uns, trotz aller hinzugekommenen administrativen Unterstützungs-Möglichkeiten. Theo Harychs Buch steht für viele tausende ungeschriebene Leidensgeschichten. Außer manchen Sozialarbeitern, Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern und gelegentlich der Regenbogenpresse interessiert sich auch bei uns kaum jemand für diese tagtägliche Realität hinter manchen Wohnungstüren.
HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN ist zugleich ein Mahnmal – zur Erinnerung an diese Familie und an hunderttausende, Millionen Menschen damals und zu allen Zeiten, im Deutschen Reich und überall auf der Welt, – Menschen, die am Rand des Verhungerns vegetieren müssen, in täglichem Überlebenskampf jedes gegen jeden, irregeführt und gedemütigt von der Gesellschaft, zu der sie gehören, sich selbst mißachtend. Menschen wie wir, mit den gleichen Bedürfnissen nach Anerkennung und Nähe, nach Liebe und Lachen, nach Frieden.
Nach dem vorliegenden Buch schrieb Theo Harych noch zwei weitere, bis heute lesenswerte Romane. 1958 hat er sich das Leben genommen.
(Aus dem Nachwort)
Achtung: Überlebende von Gewalt (vor allem familiärer Gewalt) kann dieses Buch triggern!