CHASE, Truddi: Aufschrei [DIS, erzählender Fallbericht]
Truddi CHASE: Aufschrei
(Bergisch Gladbach 1988 und später)
Autorin mit Multipler Persönlichkeit (DIS). Wohl die erste Selbstdarstellung von Teilpersönlichkeiten eines Multiplen Systems. Typische traumabedingte Erfahrungen, Ängste und Einschätzungen sowie DIS-spezifische Aspekte und der therapeutische Umgang mit ihnen werden auch für Außenstehende gut nachvollziehbar. Dies gilt auch für die Einleitung des Therapeuten (Robert A. Phillips), dessen engagierte und unbedingte Solidarität mit Überlebenden von sexualisierter Gewalt/Inzest auch im Verlauf des Buches immer wieder deutlich wird. Eindringlich und realistisch wird das zeitweise Herumprobieren des Therapeuten gezeigt, der mit Multiplen noch keine Erfahrung hatte (Handlungszeit ist 1980-84) – und das schrittweise gemeinsame Verständnis von Alltagspersönlichkeit ("Klientin"), verschiedenen Innenpersonen und dem Therapeuten für die spezielle Psychodynamik des Systems. In die fortlaufende Rahmenhandlung (eine komprimierte Darstellung der vierjährigen Therapie, soziales Drumherum, ein paar Ausrutscher in die Unterhaltungsroman-Kolportage) sind erläuternde Hinweise und metaphorische Umschreibungen eingefügt, durch die aktuelle Empfindungen/Einschätzungen und Interventionen von Teilpersönlichkeiten nachvollziehbar werden. Die Darstellung gibt einen tiefen Einblick in die vielschichtige existentielle innerpsychische Dynamik, Kommunikation und Realität bei Multis, wie er in ähnlicher gedanklicher, emotionaler und sprachlicher Dichte kaum sonstwo zu lesen ist. Auch die Vielschichtigkeit im Umgang eines Multiplen Systems mit einem Therapeuten/einer Therapeutin habe ich bislang nur selten angemessen dargestellt gefunden.
Diese subtile Darstellung aus den Anfängen der DIS-bezogenen Traumatherapie, als es noch kaum hilfreiche Fachliteratur gab (selbst von PUTNAM – auf den im Buch verwiesen wird – waren zu diesem Zeitpunkt erst einzelne Fachaufsätze zur – damals noch: MPS erschienen!), ist aufgrund ihrer Stringenz und Nuanciertheit m.E. ein bis heute relevantes Modell für eine angemessene DIS-Therapie. Manche Momente lassen sich erst auf Grundlage der neuen Forschungen über die 'Strukturelle Dissoziation' nachvollziehen. Eine Kostprobe:
"Zwischen Buffer und mir gibt es große und komplizierte Unterschiede. Buffer steht zwischen der Frau und der Außenwelt, fängt emotionale und körperliche Stöße auf. Außerdem sammelt sie die abschweifenden Gedanken, die Weaver nicht mehr einweben kann. Buffer denkt weniger logisch als ich. Sie denkt emotional auch über die Vergangenheit, denn sie arbeitet auf der Ebene der Gefühle und ich auf der kognitiven. Ich bemühe mich, es so einfach wie möglich zu sagen." (S. 251f.)
Es wird deutlich, daß zu einem umfassenden, tiefgründigen Darstellen und Nachvollziehen der Psychodynamik bei Multis das konventionelle psychotherapeutische Begriffsarsenal in keiner Weise ausreicht. – Beim Wiederlesen des Buches nach sechs Jahren wurde mir bewußt, daß bisherige psychotherapeutische Fachbücher über Multiple Systeme diese in gewisser Weise als black box reflektieren. Manche autobiografische Darstellungen öffnen immerhin Fenster und Türen ins Innere dieser black box – "AUFSCHREI" hingegen erlaubt den ansatzweisen Nachvollzug der psychodynamischen Organisation zumindest eines speziellen Multiplen Systems.