GAHLEITNER, S.B.: Neue Bindungen wagen [Fachbuch]
Silke B. GAHLEITNER: Neue Bindungen wagen. Beziehungsorientierte Therapie bei sexueller Traumatisierung
(München 2005)
Eine auch für Außenstehende sehr gut nachvollziehbare, nuancierte Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung nach sexueller Traumatisierung im Kindes-/Jugendalter, in die viele bedeutsame Erkenntnisse/Erfahrungen der Psychotraumatologie einbezogen werden. (Nicht selten sind jedoch die symptomatischen Folgeschäden noch erheblich schlimmer als im Buch beschrieben; das betrifft nicht zuletzt die Vielzahl von Betroffenen mit Suchterkrankungen, wozu bei Drogen häufig Prostitution eine weitere Folge ist.)
Methodisch gekonnt leitet die Autorin dann über zur therapeutischen Situation. Grundlage sind fünf ausführliche Fallbeispiele, wodurch ein differenzierter Einblick in die komplexen Bedingtheiten nach sexueller Gewalt möglich wird. Die eminente Relevanz der Bindungstheorie (siehe auf dieser Liste: BRISCH) für Traumatherapie wird nachvollziehbar: "Ohne eine tragfähige Beziehung (...) ist eine Überwindung des Mißtrauens gegenüber sich und der Welt und eine Annäherung an die eigene zerrüttete Identität nach einer schweren Traumatisierung unmöglich."
Gut nachvollziehbar wird die beziehungsorientierte therapeutische Arbeit vorgestellt. Ziel ist es, aus der Übertragungs-/Gegenübertragungsdynamik eine aufrichtige Realbeziehung entstehen zu lassen, auf deren Grundlage Gefühlsdifferenzierung und kognitive Weiterentwicklung möglich wird – und damit verbunden die Umwandlung und Integration traumatischer Empfindungen/Erinnerungen. Dabei sollte die therapeutische Beziehung und Bindung im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehen!
Dieses organische Entfalten des gemeinsamen Reflexionsprozesses macht eventuell traumafokussierende Verfahren überflüssig (ich denke hier auch an das hochinvasive EMDR!). Es kann zur "Selbstaktualisierung" (Rogers) kommen, wobei traumatisches Material genau dann an die Oberfläche drängt, wenn genügend Stabilisierung in der therapeutischen Beziehung (und im sonstigen Alltag) vorhanden ist. Dies entspricht auch meiner Erfahrung.
Silke Gahleitner kritisiert eine Tendenz zur "Manualisierung" von traumabezogenen Therapiemethoden. Auch dies steht der Entfaltung von therapeutischen Beziehungen und dem Verständnis für individuelle Ressourcen und Konflikte im Wege.
Wohl kaum übertrieben ist die Prognose der Autorin: "Wird nicht vom ersten Moment an die erschütterte Bindungsthematik an die erste Stelle gesetzt, kommt eine Therapie erst gar nicht zu Stande." (116)
In den Fallberichten finden sich erschreckende Erlebnisse mit dem professionellen Hilfesystem im Hnblick auf das Fehlen einer authentischen therapeutischen Beziehung. Gänzlich verständnislose pädagogisierende Interventionen und Therapie als "Zusammenreißaufgabe" werden dargestellt. Für ihre Kindheitssituation erwähnen die Betroffenen gravierende blinde Flecke im Hilfesystem, explizit verweigerte Hilfeleistung sowie daß die Gewalt-/Mißbrauchsproblematik nicht erkannt, vielmehr als pubertärer Konflikt abgetan wurde. Für das Erwachsenenalter berichten sie von professionellem Unglauben, Anzweifeln der Realtraumatisierungen, pathologisierenden, retraumatisierenden Interventionen, entwertenden therapietheoretischen Dogmen, an der Realität vorbeigehenden psychiatrischen Diagnosen, uneingestandener Hilflosigkeit bei TherapeutInnen und SozialpädagogInnen, machtträchtigen, theoretisch fixierter und deutungsintensiver Orientierung, therapeutischen 'Experimenten'. Es wird deutlich, daß kassenfinanzierte Therapieverfahren der Situation dieses Klientels oft nicht gerecht werden und die TherapeutInnen/PsychiaterInnen oft wenig Kenntnisse haben über die subjektive Situation von Betroffenen mit Traumafolgeschäden.
Noch nicht angemessen differenziert dargestellt wird allerdings die vielfältige dissoziative Symptomatik (Stichwort: Strukturelle Dissoziation). Es fehlen Hinweise auf Möglichkeiten, therapeutische Prozesse wachsen zu lassen mit Betroffenen, die während der Therapiestunden die meiste Zeit dissoziieren (z.B. Ego States-Arbeit). Vielleicht bei der nächsten Auflage?!
Dennoch, - dieser schmale Band wiegt in seiner radkalen Orientierung auf beziehungs- und bindungsgeleitete traumatherapeutische Praxis Stapel von Fachbüchern auf!
>Siehe auf dieser Liste: HEIGL-EVERS, FREEMAN u.a., CASEY, PEICHL.