LOACH, Kenneth: Family Life [Spielfilm]
Kenneth LOACH: Family Life (Familienleben)
(Spielfilm, 1971; mehrere Auszüge auf YOU TUBE)
>>Ein sensibles, hilfloses und wehrloses Mädchen wird mit den raffiniertesten Methoden des psychischen Terrors von seinen Eltern systematisch in den Wahnsinn getrieben. Diese in einer aus Harmlosigkeit, Biederkeit und Selbstlosigkeit gesponnenen Maske auftretenden Eltern hacken auf der scheuen und verschüchterten Janice von morgens bis abends herum, weil sie keine andere Möglichkeit kennen oder akzeptieren wollen, ihr Kind zu "erziehen".
Es ist ein monströses, aus lauter doppelbödigen Halbwahrheiten zurechtgezimmertes Weltbild, in dem sich diese beiden Erwachsenen mit allen Attributen einer bürgerlich gesicherten und wohlanständigen Existenz eingenistet haben, und das sie mit einem geradezu mörderischen Fanatismus, mit einer Borniertheit, Selbstüberheblichkeit und Gnadenlosigkeit verteidigen, die in diese Extremität fast als unwirklich erscheinen mag.
Aber das Entsetzliche und Schockierende daran ist gerade, daß der Geifer, mit dem sie sich über alles hermachen, was nicht in ihrem begrenzten Horizont unterzubringen ist, eine Denkweise offenbart, die man überall in einer ähnlich latenten Form antreffen kann.
Wie gefräßige Spinnen hocken die beiden in ihrem klebrigen Fangnetz und nehmen jede Gelegenheit wahr, ihr Opfer in die Enge zu treiben, bis es unter dem Gift ihrer heuchlerischen Einschüchterungen gelähmt in sich zusammenfällt.
Für die schwache Janice gibt es aus diesem Teufelskreis kein Entrinnen. Der psychischen Tortur ihrer Eltern ist sie genauso wenig gewachsen wie den Elektroschocks und Beruhigungsspritzen, die man ihr in der psychiatrischen Klinik, in der sie den endgültigen Todesstoß erhält, allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Hohn verabreicht.
Apathisch läßt sie das Vernichtungswerk ihrer Entpersönlichung über sich ergehen, ein menschliches Wrack, das zugrundegerichtet worden ist durch den Starrsinn und die Verständnislosigkeit von Henkersknechten einer menschlichen Ordnung, die den Prügelstock mit Liebe verwechselt, sture Reglementierung mit Freiheit, psychische Erniedrigung mit Erziehung, Schocktherapien mit Heilung.
In einer kühlen, distanziert-sachlichen Atmosphäre läßt Kenneth Loach diese Schreckensvision eines Familienlebens vor dem Zuschauer abrollen. Da ist jedes Detail, jedes Wort, jede Geste von solch schlagkräftiger Beredtsamkeit, da springt einem aus jeder Einstellung der faschistoide Grundzug dieses "alltäglichen Lebens" mit solch nackter Spontaneität entgegen, daß ein Hitchcock-Thriller nicht schweißtreibender sein kann, mit dem gravierenden Unterschied allerdings, daß man es dort mit reiner Fiktion zu tun hat, während hier einem eine von allen Verstellungskünsten entblößte Wirklichkeit ihre Zähne schmerzvoll, aber auch sehr heilsam ins Fleisch schlägt.<<
(Rezension in der STUTTGARTER ZEITUNG 186/1973)
Ich habe diesen Film 1973 im Fernsehen gesehen und nie mehr vergessen. Vermutlich wurde er zum ersten Anstoß für mein grundsätzliches Nachdenken über pathologische Familien. - Leider scheint es grade von diesem Loach-Film keine DVD zu geben; über einen entsprechenden Hinweis würde ich mich sehr freuen!
>Siehe auch von Ken(neth) LOACH den Film: 'Ladybird, Ladybird' (1994)