MERTZ, J. Erik: Borderline [Fachbuch]
J. Erik MERTZ: Borderline. Weder tot noch lebendig...
(Stuttgart 2000)
Erkenntnis von Wirklichkeit ist nichts "Objektives"; sie hängt ab von einem bestimmten Blickwinkel, einem Paradigma (Kuhn, Feyerabend). Dies gilt auch für das Verständnis von psychischen Befindlichkeiten, worauf z.B. LAING, BASAGLIA, FOUCAULT oder SZASZ hingewiesen haben. Heutzutage gibt es einen zunehmenden Konsens in der besonderen Aufmerksamkeit für innere Ressourcen, für einen unzerstörten und unzerstörbaren Kern der Persönlichkeit jedes Menschen. Diese Orientierung ist unbedingt zu begrüßen, dennoch entstehen durch jeden Blickwinkel "blinde Flecke" der Aufmerksamkeit, wie Autofahrer wissen. –
Manche Menschen scheinen an einer seltsam diffusen und ungreifbaren "Ich-Schwäche" (?) zu leiden, die in gängige Interpretationsmuster psychischer Störungen nicht so recht hineinpaßt. Von H. DEUTSCH wurde vor langer Zeit der Begriff einer "Als-Ob-Persönlichkeit" geprägt; Ch. ROHDE-DACHSER spricht – mit Bezug auf DEUTSCH – von "blandem Borderline". Es geht um Menschen mit subtilen, quälenden Empfindungen von innerer Leere, Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit, die andererseits sozial meist gut "funktionieren" und wegen ihrer hohen Anpassungsbereitschaft oft gern gesehen sind. Selbst bei hoher Intelligenz und Eloquenz im Bereich von Sachthemen ist es ihnen kaum möglich, konkretere Aussagen zu machen über ihre innere Befindlichkeit, über ihr "Wahres Selbst". Ihr meist unbeirrbares "Funktionieren" im Alltag erinnert an die Symptomatik bei Narzißtischer Persönlichkeiten; ihre auch im näheren Kontakt offenbar unaufhebbare Unfähigkeit, differenziertere Aussagen zu machen über seelische Empfindungen, paßt dazu jedoch nicht. Andererseits zeigen sie keine Anzeichen einer psychotischen Dynamik.
Erik Mertz (er ist klinischer Psychologe in München) bürstet in seinem beeindruckenden und verstörenden Buch gängige Hypothesen zu Borderline gegen den Strich. Er sieht gerade in diesen unauffällig funktionierenden, diffus leidenden Betroffenen die Kernstruktur des Borderline-Syndroms. Dabei handelt es sich für Mertz um eine Störung, die aus einer pränatalen Umstrukturierung hervorgeht, - um einen strukturellen Autismus, demgegenüber sogar die sogenannten Psychosen ein strukturell höheres Niveau haben würden.
Es ist mir nicht möglich, der vielschichtigen und hochdifferenzierten Argumentation des Autors an dieser Stelle gerechtzuwerden. Nach allem, was ich verstanden zu haben glaube, halte ich sie jedoch für eine wichtige psychosoziale Neukonzeption.
Allerdings ersetzt sie meines Erachtens nicht, wie vom Autor intendiert, den bisherigen eher ressourcen- bzw. traumabezogenen Blickwinkel auf Frühstörungen / ich-strukturelle Störungen!
Die Symptomatik des "simulationsfähigen Autisten", als welche Mertz Borderline-Betroffene insgesamt interpretiert, steht möglicherweise eher in Zusammenhang mit der vor allem von Theoretikern der "Frankfurter Schule" (HORKHEIMER, ADORNO; vgl. aber auch bei Arno GRUEN) beschriebenen zunehmenden Verdinglichung und Instrumentalisierung des sozialen Lebens. Unter diesem Blickwinkel verstanden ist die deprimierende und hoffnungslose Einschätzung des Autors auch für mich plausibel:
"Als völlig beziehungsunfähiger Mensch kann sich der XXX widerstandslos mit den anonymen Mechanismen der modernen Lebens- und Arbeitswelt verschalten und ist deshalb in den Funktionseliten deutlich überrepräsentiert."
Allerdings: Solche extremen (ich-strukturellen?) Fehlentwicklungen als Grundprinzip des Borderline-Syndroms zu interpretieren, halte ich für völlig indiskutabel. (Aus diesem Grund habe ich im Zitat oben den ursprünglichen Begriff "Borderlinekranke" ersetzt durch "XXX".) –
Ich habe im übrigen bei Betroffenen mit dem von Mertz nuanciert beschriebenen pseudo-autistischen Syndrom im näheren Kontakt in jedem Fall auch Persönlichkeitskompetenzen gefunden, die nur mit einer wesentlich weiter entwickelten Persönlichkeitsstruktur zu erklären sind. Diese waren der/dem Betroffenen allerdings nur sehr eng umgrenzt verfügbar. Signifikant im sozialen Alltag ist bei diesen Personen tatsächlich ihr "simulationsfähiger [Pseudo-]Autismus", den ich im Widerspruch zu Mertz als (vermutlich traumabedingte) Kombination von generalisierter Abspaltung (Strukturelle Dissoziation; siehe hier unter: van der HART/NIJENHUIS/STEELE und PEICHL) und sehr speziellem "Falschen Selbst" (WINNICOTT) verstehen möchte.
Bei der notwendigen Aufgabe, solchen vom Leben in einer besonders schrecklichen Weise ausgeschlossenen Menschen gerechtzuwerden, dürfte das Buch von Erik Mertz Wichtiges beitragen, - jedoch: "gegen den Strich gelesen"!
Deswegen habe ich – nach längerem Zögern – diese Arbeit in die Literaturliste aufgenommen, obwohl der manchmal geradezu menschenverachtend anmutende Pessimismus des Autors mir wehtut. Offensichtlich ist jedoch zugleich seine eigene Betroffenheit und die tiefgründige, unbedingt ernstzunehmende Argumentation.
Ist nicht leicht zu lesen und setzt gründliche Fachkenntnisse im Bereich der psychodynamischen Theorie voraus.