PEICHL, Jochen: Die inneren Trauma-Landschaften. Borderline, Ego States, Täter-Introjekt [Fachbuch]
Jochen PEICHL: Die inneren Trauma-Landschaften. Borderline, Ego State, Täter-Introjekt (Stuttgart 2007)
Eine herausragende aktuelle Übersicht zu Forschung, Methoden, Themen, Therapien im Zusammenhang mit zentralen traumatherapeutischen Fragen bietet diese Monografie des Psychiaters, Psychoanalytikers und EgoState-Therapeuten. Das Buch setzt fundierte Fachkenntnisse voraus.
Besonders bedeutsam erscheinen mir folgende Aspekte der Arbeit:
- die Gewichtung auf Bindungsstörungen,
- der Einbezug von neueren Erkenntnissen der praktischen Säuglingsforschung (siehe hier: STERN, KUNTZ),
- der Hinweis auf systemtheoretische Konzeptionen (F.W. DENEKE),
- Otto KERNBERGs Borderline-Konzeption wird kritisch hinterfragt und teilweise nutzbar gemacht für das Verständnis der Feinstruktur von Ego States,
- umfassende Darstellung praktischer Auswirkungen von dissoziativen Störungen (Kompensationsformen), was eine angemessene Abgrenzung von der leider üblichen symptomorientierten Therapie impliziert,
- Konzeption von Borderline als im wesentlichen dissoziativer Störung (Strukturelle Dissoziation),
- die nachvollziehbare Darstellung der unterschiedlichen psychoanalytischen bzw. traumatherapeutischen Vorstellungen von Borderline, auch im Zusammmenhang mit und in Abgrenzung von DIS,
- eine praxisnahe und kritische Kurzdarstellung der ursprünglichen Ego State-Konzeption nach WATKINS/WATKINS,
- die sehr gute sprachliche Vermittlung (auch von neurobiologischen Zusammenhängen),
- die Kurzdarstellung der Polyvagal-Theorie von PORGES als weiteren Hinweis auf die phylogenetische Entwicklung der unterschiedlichen Reaktionsweisen auf Streß/Bedrohung,
- Kurze Darstellung der neuentdeckten "Spiegelneurone" im Gehirn, durch die u.a. Phänomene wie Empathie und 'intuitives' Verstehen/Wiedererkennen und Übernehmen von Handlungen anderer nachvollziehbar werden könnten. (Besonders relevant für das Thema Täter-Introjekte!) (Siehe auf dieser Liste RIZZOLATTI/SINIGAGLIA.)
Bei seiner Darstellung der 'Strukturellen Dissoziation' (siehe auf dieser Liste: van de HART/NIJENHUIS/STEELE) kommt leider die 'Tertiäre Strukturelle Dissoziation' zu kurz, die insbesondere bei DIS zu vielfältigen 'Mischungen' zwischen Ressourcen, Defiziten und Dissoziationsformen führt. So sind multiple 'Innenkinder' keineswegs immer (wie von Peichl nahegelegt) 'regressive Opferpersönlichkeiten', sondern tragen nicht selten gegenwartsorientierte Ressourcen des Systems in sich, die dann große Bedeutung haben für das Heilewachsen! Andererseits ist die den Alltag bewältigende 'Anscheinend Normale Persönlichkeit' (ANP) gerade bei DIS im allgemeinen kein "erwachsenes" (also seelisch ausdifferenziertes, stärker belastbares) "wirkliches" Ich, wie ein Pychoanalytiker das für sein Menschenbild nun eben braucht.
Peichls Erfahrungsschwerpunkt liegt offenkundig beim Thema Borderline und ihm liegt auch daran, die ins Wanken geratende psychoanalytische Definitionsvorherrschaft auf diesem Gebiet auch gegenüber den neueren Erkenntnissen der Psychotraumatologie zu stärken. Auch in diesem Zusammenhang sehe ich sein neuestes Buch, dessen Blickwinkel deutlich auf der Borderline-Persönlichkeitsstruktur liegt. ('Innere Kinder, Täter & Co. Ego State-Therapie des traumatisierten Selbst'; Stuttgart 2007.)
'Die inneren Trauma-Landschaften' ist dennoch ohne wenn & aber ein wunderbares Buch, das möglicherweise für die nächsten Jahre zumindest im deutschsprachigen Raum zum Standardwerk werden wird. Die nächste Generation des Verständnisses für Borderline und Dissoziation hat den ersten Schritt gemacht!