PELZER, Dave [Erzählender Fallbericht, autobiografisch]
Dave [David] Pelzer: Sie nannten mich 'Es'
(München 2000)
Ders.: Der verlorene Sohn (München 2001)
Ders.: Ein Mann namens Dave (München 2002)
Der Autor kämpft vom 4.-12. Lebensjahr gegen die systematische sadistische Terrorisierung durch die eigene Mutter. Die Familie (mit drei Söhnen) hatte zunächst über Jahre ein pefektes US-Middleclass-Leben zelebriert. Durch unklar bleibende Umstände kommt es (im Zusammenhang mit Alkoholabhängigkeit bei beiden Elternteilen) zur Auflösung der familiären Idylle. Schritt für Schritt tritt bei der Mutter ein mörderischer Männerhaß an die Oberfläche, den sie jedoch ausschließlich auf den jüngsten Sohn David projiziert.
Daneben die sehr seltene Beschreibung eines Vaters, der der konsequenten seelischen und körperlichen Folter seines Sohnes hilflos gegenübersteht und selbst offensichtlich unfähig ist, sich seiner Frau gegenüber zu behaupten. (Diese Darstellung mag glaubhafter machen, wie in den weit häufigeren Fällen Mütter mit entsprechender Persönlichkeitsstruktur unfähig sein können, sich gegenüber einem gewalttätigen/sexuell mißbrauchenden Mann/Vater mit den betroffenen Kindern zu solidarisieren.)
In der nuancierten Darstellung lassen sich bei der Mutter an winzigen Momenten unterschiedliche dissoziative (wohl traumabedingte) Ego States ahnen; möglcherweise handelt es sich um DIS.
David hat sich (offenbar schon im Alter von etwa sechs Jahren) geschworen, sich nicht zerstören zu lassen von der Mutter. (Für mich vorstellbar ist eine Art Verschmeldung von Über-Ich-Ideal und Ich-Ideal aufgrund des durchgängigen Fehlens von erwachsenen Orientierungsfiguren.) – Sein Überlebenskampf läßt mich an entsprechende Zeugnisse von kindlichen KZ-Überlebenden denken (z.B. Edgar Hilsenrath: 'Nacht', Elie Wiesel: 'Die Nacht', Martin Gray: 'Der Schrei nach Leben', Michel del Castillo: 'Elegie der Nacht').
Erschütternd ist auch die konsequente Ignoranz von Lehrern, die über Jahre hinweg alle Anzeichen auf häusliche Gewalt übersehen - und sich immer neu zufriedengeben mit den Lügengeschichten der Mutter, - dies selbst nachdem der Junge Andeutungen über sein Leid macht!
In wenigen Dokumentationen wird so klar nachvollziehbar, daß es sich bei sadistischen KZ-Schergen genauso wie bei systematisch sadistischer Ritueller (Sekten-)Gewalt sicher oft um TäterInnen mit Struktureller Dissoziation handelt, bei denen die dominanten Ego States entsprechende pathologische Haß- und Vernichtungsempfindungen ausagieren.
Nachdem das gesellschafliche Umfeld zuletzt doch reagiert hat und David vor seiner Mutter gerettet ist, folgt ein verwirrendes, zermürbendes Hin und Her mit Vormundschaftsrichtern, verschiedenen Pflegefamilien, von denen einige ihm "zum letztmöglichen Zeitpunkt in meinem Leben die Chance gaben, Kind zu sein, während sie mich gleichzeitig auf mein Leben als Erwachsener vorbereiteten." Von dieser Zeit berichtet der zweite Band (München 2001). Er ist (sicher aus verkaufstaktischen Gründen) breit angelegt, dennoch inhaltlich nuanciert und stimmig, keine Kolporage.
David Pelzer erzählt in tiefer Ehrlichkeit und Geradheit – so, daß die Empfindungen des Kindes/Jugendlichen im jeweiligen Alter einigermaßen nachvollziehbar werden. Im zweiten Buch geht es vor allem um Momente der nötigen sozialen Nachreifung (deren eigene Problematik wohl oft nicht erkannt wird von professionellen Helfern, nachdem Kinder/Jugendliche aus ihren terroristischen Elternhäusern befreit wurden!):
"Um Mutters Folterqualen zu überleben, konnte ich nur von Stunde zu Stunde planen, höchstens von Tag zu Tag. In der offenen, weiten Welt ganz allein zu sein, war das Beängstigendste, was ich mir vorstellen konnte."
Das Buch enthält kluge Nachworte des Autors und verschiedener Helfer zu der oft mißachteten hilfreichen Funktion von Pflegefamilien (aber auch Sozialarbeitern, Lehrern und Polizisten) zugunsten von Kindern aus dysfunktionalen/ traumatisierenden Elternhäusern. Es wird erwähnt, daß es im Jahr 1993 nicht weniger als 616.000 registrierte Fälle von Kindsmißhandlung im Staat Kalifornien gab; dazu muß noch an die extrem hohe Dunkelziffer gedacht werden.
Im dritten Buch (München 2002) geht es um Dave Pelzers Lebensgestaltung im Erwachsenenalter. Deutlich wird, daß er offenbar durch den konsequenten und damit vorhersehbaren Terror der Mutter kaum Symptome der PTBS entwickelt hat! Lange hat er allerdings noch zu kämpfen mit Selbsthaß und Schuldgefühlen, typischen Folgen bei terroristischen primären Bezugspersonen (Eltern).
Dave Pelzer versucht als Erwachsener mehrfach, Kontakt aufzunehmen mit der Mutter, um zu verstehen, wieso sie ihn lebenslang mit sadistischem Haß verfolgt hat. Dieses Rätsel kann nicht gelöst werden, obwohl Zusammenhänge zu einer moderat bleibenden analogen Persönlichkeitsstruktur bei der Großmutter mütterlicherseits zu vermuten sind. – Bis zu ihrem Lebensende zeigen sich bei Davids Mutter in erschütternder Deutlichkeit winzige Momente liebevoller Zuwendung, was für mich wiederum am ehesten mit DIS erklärbar erscheint.
Das zweite und dritte Buch hätten mit Gewinn gestrafft werden können; dennoch sind beide Teile lesenswert durch die rigoros ehrliche und nachvollziehbare Darstellung der weiteren Lebensentwicklung.
Ich möchte es als hoffnungsvolles Zeichen verstehen, daß alle drei Bände über vier Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times standen..
> (Siehe auf dieser Liste: ELLIOTT.)