REDDEMANN/ HOFMANN/ GAST: Psychotherapie der dissoziativen Störungen
Luise REDDEMANN/ A. HOFMANN/ U. GAST (Hrsg.): Psychotherapie der dissoziativen Störungen
(Stuttgart 2004) (hier weiter unten: 3. Auflage 2011)
Enthält ein breites Spektrum von Beiträgen international anerkannter AutorInnen. Neben Arbeiten zur Diagnostik dissoziativer Störungen sind (neben anderen) folgende therapeutisch relevante Beiträge enthalten:
- Behandlung der DIS aus psychodynamischer Sicht (R.P.KLUFT)
- Zielorientierte Integration – ein kognitives Therapiemodell (C.G.FINE)
- Psychodynamisch imaginative Traumatherapie (L.REDDEMANN)
- EMDR bei schweren dissoziativen Störungen (A.HOFMANN)
- Wechselwirkungen zwischen stationärer und ambulanter Behandlung von DIS (F.OLTHUIS)
Bedeutsam ist die erste deutschsprachige Darstellung neurophysiologischer Zusammenhänge bei den unterschiedlichen "Ebenen" dissoziativer Störungen, hervorgegangen aus dem Konzept der peritraumatischen Dissoziation nach Myers:
- Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur, traumatischer Ursprung, phobische Residuen (E.NIJENHUIS, O.van der HART, K.STEELE)
Leider sind wichtige Literaturhinweise zu diesem Beitrag in der Literaturliste nicht ausgewiesen.
Die in diesem Beitrag nuanciert dargelegten neurobiologischen Grundlagen des Ansatzes sind innerhalb der späteren Monografie (siehe auf dieser Liste: van der HART/NIJENHUIS/STEELE) nicht enthalten!
Dem im Titel liegenden Anspruch einer Gesamtdarstellung wird das Buch nicht gerecht. (Siehe dazu eher auf dieser Liste: PEICHL.) Der Schwerpunkt des Buches liegt auf diagnostischen Fragen sowie auf DIS-Therapie, wobei zumindest ich in den therapeutischen Ansätzen von Kluft (trauma-adaptierte analytische Therapie) und Fine (trauma-adaptierte Verhaltenstherapie) nicht allzu viel Originalität zu finden vermag. Therapeutische Hinweise für die bei (K)PTBS häufig vorkommenden vielfältigen Mischungen von dissoziativen Symptomen fehlen. –
Hinweise auf Beratungs- und stationäre Therapieangebote (in Deutschland) sowie relevante Internetadressen ergänzen den Band.
Richtet sich an Professionelle mit Erfahrungen in der Therapie von dissoziativen Störungen.
(Ärgerlich ist die sehr schlechte Bindung bei dem nicht billigen Fachbuch!)
(3., überarbeitete Auflage Stuttgart 2011)
Von diesem Buch gab es 2006 eine 2. sowie 2011 eine 3., überarbeitete Auflage. Letztere habe ich mit der ersten Auflage verglichen, zu der teilweise erhebliche Unterschiede bestehen:
- Die wichtige Übersichtsdarstellung zum Konzept der Dissoziativen Identitätsstörung (von Ursula Gast) wurde aktualisiert und ist damit weiterhin relevant zur Diskussion mit Profis, die noch immer "nicht glauben wollen, daß es sowas gibt".
- Aktualisierungen im Aufsatz 'Zur Prävalenz dissoziativer Störungen' (Ursula Gast, jetzt zusammen mit Frauke Rodewald) bestätigen die bisherigen Erkenntnisse.
- Die Darstellung zum Konzept der Strukturellen Dissoziation (Nijenhuis, van der Hart, Steele, jetzt zusätzlich: Helga Mattheß) wurde gestrafft und um neue fremde und eigene Forschungsergebnisse ergänzt. In der ersten Auflage fehlende Fachliteratur wurde im Literaturverzeichnis am Schluß des Buches eingearbeitet. - Bezugnehmend auf einen Artikel (Nijenhuis/van der Hart) aus dem Jahr 2010 schlagen die AutorInnen hier eine vielleicht nicht unwichtige begriffliche Änderung vor. Um nicht den Eindruck zu erwecken, "strukturelle Dissoziation" sei ein spezifisches dissoziatives Symptom (wie Depersonalisation oder dissoziative Amnesie usw.), sollte beser von "Dissoziation der Persönlichkeit" (oder "Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur") gesprochen werden. Diese Klarstellung ist wichtig, andererseits sollte (das ist jetzt mein Gedanke:) nicht das Spezifikum aus dem Blick geraten, daß die dissoziativen Anteile in einem relativ festen, d.h., in sich selbst auch strukturellen Verhältnis zueinander stehen!
- Neu hinzugekommen ist ein wunderbarer Aufsatz von Michaela Huber: 'Täterloyalität und Täteridentifikation verändern': Eines der innerhalb der therapeutischen Beziehung schwierigsten und deshalb oft vernachlässigten Themen bei Kindheitstraumatisierungen durch Bezugspersonen wird achtsam, empathisch, nicht mechanistisch dargestellt. Dazu gehört auch der Umgang mit Gegenübertragungsphänomenen, und natürlich gilt all das genauso für Beratungssituationen und Supervision. - In dieser Darstellung wird exemplarisch die emotionale Situation von Menschen mit (struktureller) Dissoziation der Persönlichkeit deutlich. Insofern ist es ein wichtiges Gegengewicht zu den anderen, insgesamt doch eher theoretisch-konzeptionell gewichteten Aufsätzen. Seiner wissenschaftlichen Relevanz tut das keinen Abbruch.
- Zu Arne Hofmanns Darstellung 'EMDR bei schweren dissoziativen Störungen' kam als Coautorin Helga Mattheß; vermutlich auf sie zurückzuführen sind wichtige Hinweise zum Umgang mit dissoziativen Anteilen/Persönlichkeiten, im Zusammenhang mit EMDR.
- Neu ist eine Überblicksdarstellung 'Stationäre und ambulante Behandlung komplexer dissoziativer Störungen (DIS, DDNOS)' von Claudia Wilhelm-Gößling.
- Ebenso neu hinzugekommen und sehr wichtig ist ein Aufsatz mit dem unprätentiösen Titel 'Behandlung von Kindern' (Annette Kissenbeck/ Dagmar Eckers). Natürlich geht es um die traumatherapeutische Behandlung von dissoziativen Störungen, hier jedoch nicht nur im klassischen Verständnis der "Konversionsstörung", sondern auf der Grundlage der (Strukturellen) Dissoziation der Persönlichkeit! Erwähnt werden die häufigen Fehldiagnosen (Legasthenie, ADHS); auch "der zeitweise Verlust sprechen zu können" (vgl. das Info 'Mutismus und Trauma' bei D+T!). Wichtig der Hinweis, daß das Potential dissoziativer Anteile bei Kindern noch wesentlich fluider ist als bei erwachsengewordenen Überlebenden von kindlichen Traumatisierungen. Deswegen kann ein cum grano salis als ANP zu verstehender Anteil bei einem Kind in der Therapie durchaus noch als Leitfigur (als "gesundes Ich") bestärkt werden, was bei einem erwachsenen Klienten kaum mehr funktoniert. Während Dagmar Eckers eine der erfahrensten Kindertraumatherapeutinnen in Deutschland ist, kommt Annette Kissenbeck aus der Systemischen Traumatherapie. Ihr sicher aus Platzgründen nur sehr kurz gehaltener Anteil an dem Aufsatz macht neugierig. Systemische Traumatherpaie (natürlich in Abgrenzung zu dem, was Bert Hellinger darunter versteht!) könnte ein wichtiges Element einer an der Entwicklungsperspektive orientierten Kindertraumatherapie werden. Kinder brauchen "heilende Gemeinschaften", nicht nur exklusive Bindungspartner..
- Der Wermutstropfen: Unter dem gleichgebliebenen Titel 'Verbrechen an Kindern' verbirgt sich ein völlig anderer Artikel. Das Referat zur Gesetzeslage und den Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden des Polizeibeamten Jürgen Heugebauer fehlt; die knappen vier Seiten stattdessen, zu sexueller Ausbeutung, Aufklärung der Öffentlichkeit, Prävention, Kinderpornografie im Internet und Pespektiven haben Handzettelniveau; was soll das? Mein Verdacht ist, daß nur aus werbetechnischen Gründen der Titel erhalten bleiben sollte. Hier hätte ich mir einen gemeinsamen Aufsatz von Martha Schalleck und Adolf Gallwitz gewünscht!
- Daß auf eine Aufstellung von Behandlungs- und Beratungsangeboten (wie in der ersten Auflage) verzichtet wurde, ist angemessen; das alles ist im Fluß und heutzutage eher über die Suchmaschinen des Internet und über spezielle Foren zu finden.
Alles in allem: Sehr gut, daß Verlag und AutorInnen sich zu dieser dritten, veränderten Auflage entschlossen haben!