SCHALLECK, Martha: Rotkäppchens Schweigen [Mind Control, "False Memory"-Kampagne; Sachbuch]
Martha SCHALLECK: Rotkäppchens Schweigen – Die Tricks der Kindesmissbraucher und ihrer Helfer
(Freiburg i. Br. 2006)
Wer Überlebende von (vornehmlich sexueller) Gewalt im Kindesalter berät und betreut, zweifelt kaum an dem, woran die Betroffenen, mit denen er zu tun hat, sich erinnern. Es geht ja nicht darum, ob ein Unfallauto von links oder rechts kam. Es geht um qualvolle Empfindungen und innere Horrorfilme, es geht um Nacht für Nacht wiederkehrende Alpträume und Panikattacken oder um Selbstverletzungen, die ablenken sollen von seelischem Schmerz. Wer, wie ich, als Helfer gemeinsam mit Betroffenen über Monate und Jahre nach Möglichkeiten sucht, Schritt für Schritt das Schreckliche, manchmal kaum Vorstellbare aufzuarbeiten, damit es endlich tatsächlich Vergangenheit werden kann, der zweifelt nicht an der realen Grundlage solcher Empfindungen des Gegenübers. – Aber es gab eine Zeit, als auch ich bei entsprechenden "Horrormeldungen" über jahrelange sexuelle Gewalt an eigenen Kindern, über sadistische und rituelle Folter und Gruppenvergewaltigungen (von Kindern) durch vermummte Männer dachte: "So schlimm kann es doch nicht sein!"
Wir wollen sowas nicht wahrhaben, - und vermutlich müssen wir uns erst auf konkreten mitmenschlichen Kontakt einlassen mit einer/einem Überlebenden solcher Gewalt, um es glauben zu können.
Diesen natürlichen Impuls, so etwas nicht wahrhaben zu wollen, machen ganz anders gelagerte Interessen sich zunutze, z.B. Täter und Strafverteidiger, die diese vertreten.
Als "False Memory Syndrome (FMS)" geistert ein Begriff mittlerweile auch durch deutsche Medien, der nichts zu tun hat mit einem psychologisch oder medizinisch belegten diagnostischen "Syndrom". – Es handelt sich hierbei um ein verwirrendes Argumentationsgeflecht im Sinne einer politisch-ideologischen Propaganda, bei dem mit bewährten rhetorischen Tricks (z.B. Zirkelschlüssen, mehrdeutigen Aussagen, taktischen Auslassungen), unzutreffenden Quellen (die jedoch nur schwer nachprüfbar sind) und möglichst umfassender Medienpräsenz (nach dem Motto: "Steter Tropfen höhlt den Stein!") in der Öffentlichkeit der Eindruck von "wissenschaftlich belegten Tatsachen" erweckt wird.
Behauptet wird von den "FMS"-Akteuren im wesentlichen, daß Erinnerungen an traumatische Erlebnisse in der Kindheit, die oft über viele Jahre aus dem Bewußtsein verbannt ("abgespalten"/"dissoziiert") waren und durch traumatherapeutische Methoden aufgearbeitet werden können, häufig falsche Erinnerungen seien, die den KlientInnen durch TherapeutInnen eingeredet wurden. (Nebenbei gesagt ist das ganze eine Kopie einer entsprechenden Kampagne von 1896; siehe bei MASSON, hier auf dieser Liste!)
Einer derartigen Medienkampagne läßt sich glaubwürdig nur durch fundierte und umfassende Richtigstellungen entgegnen, mit für Fachleute und Laien gleichermaßen nachvollziehbaren Argumentationen und verifizierbaren Originalquellen. – Die Wirtschaftswissenschaftlerin und freie Journalistin Martha Schalleck hat sich dieser Aufgabe unterzogen. Ihre rund 600 Seiten umfassende Monografie setzt sich Behauptung für Behauptung mit den Argumenten der "False Memory"-Propagandisten auseinander, überprüft die dort zugrunde gelegten wissenschaftlichen Untersuchungen, ergänzt, was von "FMS"-Vertretern wohlweislich verschwiegen wird, - und ermöglicht es uns durch über 400 Literaturhinweise (und über 900 Fußnoten mit genauen Quellenangaben), ihre Darstellung zu überprüfen.
Die "False Memory"-Kampagne entstand in den USA; auch dies macht es für uns in Deutschland schwierig, ursprüngliche Quellen und (angebliche) Forschungsergebnisse zu verifizieren. Es zeigt sich denn auch, daß selbst seriösere Medien bei uns sich dieser Notwendigkeit kaum unterziehen. In Martha Schallecks Arbeit werden relevante Originalzitate in deutscher Übersetzung nachgewiesen. Auf diese Weise wird u.a. deutlich, daß Studien von Erinnerungsforschern, auf die die "FMS"-Vertreter gerne hinweisen, bei dem hier zur Diskussion stehenden Thema in keiner Weise aussagekräftig sind, da die Abläufe bei traumatischen Erfahrungen natürlich nicht experimentell nachgestellt werden können!
Ein besonderes Thema ist die seit langem belegte Tatsache (Quellen bei Schalleck!), daß "Mind Control", also das gewaltsame Einwirken auf Bewußtseinsinhalte, im Rahmen von Geheimdiensttätigkeit (Spionage/-abwehr) bereits während des Vietnam-Krieges praktiziert wurde. Es handelt sich dabei u.a. um Folterinszenierungen, mithilfe derer gezielt dissoziative Zustände (einschließlich "Multipler Persönlichkeiten") erzwungen werden können. Die Frage drängt sich auf, ob dann nicht auch staatliche und halbstaatliche Stellen oder Gruppierungen ein Interesse daran haben könnten, daß neurophysiologische und psychodynamische Vorgänge im Zusammenhang mit Psychotraumatisierung (bzw. TraumatherapeutInnen selbst) unglaubwürdig gemacht werden in der Öffentlichkeit.. – Beweisen läßt sich sowas (noch) nicht, aber Martha Schalleck gibt eine Fülle von entsprechenden Quellenhinweisen, die es interessierten LeserInnen (bzw. Medienvertretern) wesentlich leichter als bisher ermöglichen, sich auch zu diesem Thema eine fundierte eigene Meinung zu bilden.
Besonders hervorheben möchte ich, daß die Autorin nicht nur juristisch-taktische Argumentationsmuster auch für Laien (wie mich) nachvollziehbar wiedergibt, sondern zugleich offensichtlich über solide psychotraumatologische Grundkenntnisse verfügt, sodaß auch für Außenstehende nachvollziehbar wird, wie psychodynamische Prozesse bei frühen Traumatisierungen tstsächlich ablaufen bzw. auf welche Weise fachgerechte Traumatherapie helfen kann.
'Rotkäppchens Schweigen' von Martha Schalleck wird ohne Zweifel für lange Zeit das Standardwerk bleiben für jeden, der die Hintergründe der "False Memory"-Kampagne nachvollziehen möchte. – Zumindest in Deutschland kommt keine Diskussion der Frage, ob und inwieweit traumatische Erinnerungen und Empfindungen durch TherapeutInnen verursacht werden können, an dieser Arbeit vorbei !