STEIN, Vera: Abwesenheitswelten [Menschenfalle Psychiatrie; autobiografisch]
Vera STEIN: Abwesenheitswelten.
Meine Wege durch die Psychiatrie
(Tübingen 1993)
dies.: Diagnose "unzurechnungsfähig"
(Frankfurt/M. 2006)
Im ersten Buch berichtet die Autorin von ihren Erfahrungen in der 'Menschenfalle Psychiatrie' (Titel eines Folgebandes) im Alter von 15-19 Jahren. Anlaß war ein "Verdacht auf Hebephrenie (Jugendschizophrenie)". Die Betroffene sieht dies im Nachhinein völlig anders:
"Es fehlte mir an Zuwendung. Um diese zu erzwingen, gewöhnte ich mir Macken an, die sich, je mehr die Selbstkontrolle fehlte, bis ins Unermeßliche steigern konnten. Dieses Verhalten aber gab Doktoren weitere Anhaltspunkte, mich als psychiatrischen Fall zu bezeichnen. – Sie trauten mir nicht, die Beobachtung wurde verschärft, was ein noch stärkeres Mißtrauen meinerseits hervorrief."
Resignation und zunehmende Abhängigkeit von Neuropharmaka und von der in der Psychiatrie erlernten Hilflosigkeit waren Folgen:
"Man will dann 'freiwillig' in die Psychiatrie zurück, dorthin wo man sich heimisch fühlt, wo man hinter verschlossenen Türen den Tag verdöst und sich mit Hilfe von Medikamenten in ganz eigene Welten zurückziehen kann."
Die erschreckende und beklemmende Konsequenz, mit der psychiatrische Kriterien und Methoden in Verbindung mit Berufsblindheit Menschen zerstören oder schwer schädigen können, wird nuanciert und – nach meinen Erfahrungen – realistisch dargestellt. Tatsächlich scheinen Psychiater, Therapeuten und Pflegepersonen ihre Hilflosigkeit gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, zu denen sie keinen Kontakt finden, nicht selten zu kaschieren mit Anmaßung und purem Machtmißbrauch.
Die hamburger Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Charlotte KÖTTGEN stand der Betroffenen in späteren Jahren als Gutachterin zur Seite und schreibt in einem ausführlichen Bericht über solche fachlich legitimierte Scharlatanerie:
"Vera Stein war (...) ein aufmüpfiges, lebendiges, intelligentes, 'schwieriges' Mädchen, sie hatte das Pech, daß dies zu viel war für einen sehr engen, starren, vor allem hilflosen Vater. Sie und ihre Eltern waren überfordert. Erschreckend ist, daß keiner der nachfolgenden ÄrztInnen es wagte, der 'wissenschaftlichen Autorität' einer Universitätsklinik zu widersprechen. Dies ist der eigentliche Sündenfall. Die geschlossene, langfristige Unterbringng ist ein Akt der perpetuierten Hilflosigkeit der Fachleute. (...) Es rufen wiederum Staat und Eltern nach geschlossener Unterbringung ihrer sperrigen Kinder. So gesehen ist das Thema hochaktuell." – Im übrigen betont die Psychiaterin: "Die Diagnose 'Hebephrenie' richtet mehr Schaden an, sie bringt keinen Nutzen, sie sollte aus dem Diagnosekatalog entfernt werden, da sie unzulässige, negative Vorhersagen und festschreibende Vorurteile auslöst. So wird ein negativer Verlauf erst begünstigt." (in: SOZIALE PSYCHIATRIE 1/2003; S. 14-16)
Vera Stein wurde durch die ärztlichen Fehlbehandlungen körperlich wie seelisch irreparabel geschädigt. Im Gegensatz zu den meisten derart Betroffenen fand sie Unterstützung. Sie klagte auf Schmerzensgeld und Schadensersatz durch alle Instanzen der bundesdeutschen Rechtsprechung. Im Juni 2005 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland wegen groben Menschenrechtsverletzungen zu Schmerzensgeld und Übernahme der Gerichtskosten. Den Ablauf dieser Prozesse schildert Vera Stein in dem Buch 'Diagnose unzurechnungsfähig'; sie schlägt Möglichkeiten für notwendige Reformen vor.
Kerstin KEMPKER (siehe hier auf der Liste!) schreibt in einer Rezension (FAPI-Nachrichten):
"Es geht um Freiheitsberaubung, Fehldiagnosen und massive Behandlungsschäden. Noch mehr geht es aber in diesem akribischen Bericht um das Rechtswesen und seine Sprache, um verheerende Gutachten, Winkelzüge, Kosten, Akten und Beweislasten, um Journalisten und viele Anwälte, um knappe Fristen, langes Warten und immer wieder Enttäuschungen. Ein Buch, das nichts ausläßt, von einer Autorin, die notgedrungen zur Rechtsexpertin in eigener Sache wurde und die dem Leser ein wenig von ihrer eigenen Hartnäckigkeit abverlangt, denn man kann es nicht querlesen oder überfliegen. Ein Muß für alle, die selber gegen die Psychiatrie klagen wollen."
>Zur zerstörerischen Funktion von Psychiatrie siehe auch von Marie BALTER: '..und besiege die Finsternis' (Bergisch Gladbach 1992).