STERN, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings [Entwicklungspsychologie; Fachbuch]
Daniel N. STERN: Die Lebenserfahrung des Säuglings
(Stuttgart 1992)
ders.: Tagebuch eines Babys
(München 1993)
Grundlage der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie ist Margaret MAHLERs Konzeption aufeinanderfolgender sensibler Phasen der kindlichen Entwicklung, in denen, zeitlich eng umgrenzt, durch spätere Lebenserfahrungen kaum mehr korrigierbare strukturelle "Fixierungen" entstehen können. (Aus dieser eher theoretischen als praktisch erforschten Annahme ergab sich die einflußreiche Konzeption der sogenannten "Persönlichkeitsstörungen", vor allem durch Otto F. KERNBERG.) - Demgegenüber nimmt D. N. Stern als Vertreter der neueren empirischen Säuglingsforschung lebenslang für Veränderung und Weiterentwicklung sensibel bleibende Entwicklungslinien an: "Bereiche des Selbstempfindens". –
Finden sich Verhaltensweisen und Empfindungen, die unstrittig zu einem bestimmten Zeitpunkt der kindlichen Entwicklung entstehen, bei ältergewordenen (erwachsenen) KlientInnen, werden sie nach der Konzeption von MAHLER als (pathologische) Überbleibsel einer an sich abgeschlossenen Entwicklungsphase verstanden. Aus den neuen Erfahrungen der Säuglingsforschung läßt sich jedoch der Schluß ziehen, daß unser Persönlichkeitssystem in all seinen "Bereichen" lebenslang offen bleibt für Veränderungen - also auch für seelische Verletzungen - und daß es auch später im Leben entsprechende bereichstypische Kompensationsformen entwickeln kann!
Stern betont die Konsequenzen dieser Erkenntnisse für die therapeutische Rekonstruktion der individuellen Lebensgeschichte, insbesondere bei Traumatisierungen bzw. der für "Persönlichkeitsstörungen" charakteristischen Mischungen von Verhaltensweisen/Abwehrformen und Empfindungen, die verschiedenen "Entwicklungsphasen" (nach Mahler) angehören können. Die Entstehungszeit entsprechender Traumatisierungen zu bestimmen, fällt auch aus diesem Grund in der therapeutischen Praxis oft schwer.
Signifikant für "Persönlichkeitsstörungen" und andere Formen von Traumafolgeschäden ist das Abspalten von Affekten. Stern dazu: "Die affektive Komponente der Schlüsselerfahrung steckt in der Regel ursprünglich in einem einzigen Bereich der Bezogenheit (d.h. der Selbstempfindung) und sogar in nur einem Merkmal dieses Bereichs." Ist das affektbesetzte Moment einmal gefunden, kann es der Klientin/dem Klienten als Ausgangspunkt dienen, sich die eigene Lebensgeschichte im therapeutischen Kontext "nachzuerzählen".
D.N. Sterns entwicklungspsychologische Konzeption könnte sich umfassend als Grundlage angemessenerer therapeutischer Unterstützung für Menschen mit Traumafolgeschäden erweisen. (Siehe insgesamt bei: PEICHL.) Bedeutende ressourcenorientierte Ansätze (siehe auf dieser Liste: REDDEMANN, GENDLIN, BESEMS/van VUGT, PUTNAM, HUBER, SCHWARTZ, ANDREAS) beruhen implizit nicht zuletzt auf der Voraussetzung lebenslang sensibel und entwicklungsfähig bleibender Persönlichkeitsaspekte. Auch die Aufmerksamkeit für "Affektbrücken" gehört längst zum traumatherapeutischen Standard. Der Drogentherapeut H. KUNTZ (siehe hier auf der Liste) kommt auf der Grundlage von Sterns Forschungsergebnissen zu einem neuen Verständnis der Entstehung von süchtiger Abhängigkeit. Und nicht zuletzt wird über diese entwicklungspsychologische Konzeption der genuine Zusammenhang zwischen Grundstrukturen unseres Bewußtseins und zentralen spirituellen Erfahrungen deutlich. Insbesondere die hinduistisch (RAMANA MAHARSHI) bzw. zen-buddhistisch (THICH NHAT HANH, OSHO) begründete Aufmerksamkeit für die Natur des "Ich"/"Selbst" ist ohne Zweifel relevant für ein "Heilewachsen von innen", also für ressourcenorientierte therapeutische Ansätze. (Siehe auch hier auf der Liste: SCHELLENBAUM.)
'Die Lebenserfahrung des Säuglings' setzt zwar kaum Fachkenntnisse voraus, jedoch erfordern die außerordentlich komplexen Zusammenhänge entsprechend nuanciertes psychologisches Mitdenken.
'Tagebuch eines Babys' ermöglicht demgegenüber ein konkretes, sinnliches Nachempfinden der frühkindlichen Wirklichkeit. Zusammenhänge zu Empfindungen und Verhaltensmomenten von Borderline-Menschen drängen sich geradezu auf. Auch eignet dieses Buch sich gut, Spuren positiver Erfahrungen und Gefühle aus der frühen Kindheit in sich wiederzufinden, - für frühtraumatisierte Menschen ein bedeutsamer Aspekt des Heilewachsens!
> Siehe auch:
Martin Dornes: 'Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen' (Frankfurt/M. 1993)
Dornes ist Soziologe und Psychologe (Gruppenanalytiker). Er bezieht die Forschungsergebnisse von Stern (zustimmend) auf Theorie und Praxis der Psychoanalyse.