FRAGOSO, Margaux: Tiger, Tiger [Interaktion pädosexueller Täter/ Opfer, romanhaft, autobiografisch]
Margaux Fragoso: Tiger, Tiger
(Frankfurt/M. 2011)
Der autobiografische, romanhafte Bericht einer jungen Frau, die zwischen 7. und 18. Lebensjahr Opfer eines vierzig Jahre älteren pädosexuell orientierten Mannes war. Subtiler als in jedem anderen mir bekannten (autobiografischen oder fachpsychologischen) Buch beschreibt sie die winzigen Schritte, mit denen der Täter sich ins Vertrauen des Kindes einschleicht, wie er dessen natürliche seelische Schutzreaktionen ablenkt, aushöhlt, umdefiniert. Und was daran Gewalt ist, könnte kein Kind Außenstehenden verdeutlichen, selbst wenn es unter den Nötigungen, der emotionalen Erpressung, dem In-die-Enge-getrieben-Werden sehr bewußt leidet.
Unaufdringlich und nachempfindbar (also nicht als diagnostisches Symptom herausgehoben aus dem Geflecht der Interaktion) werden dissoziative Reaktionen des Kindes erwähnt, kompensatorische Aggressionen, Alpträume..
Aber es gibt eben auch für das Kind Angenehmes in dieser "Beziehung". Die kleine Margaux wird ernstgenommen wie im Elternhaus niemals. Die Welt der Kindheit wird anerkannt - von einem Erwachsenen! Margaux wird geliebt, angehimmelt. All die Fotos, die er von ihr macht! All die Liebesbriefe! Ihm ist sie, Margaux, wichtig wie niemand sonst! Eine eigene Welt aus Geschichten entsteht zwischen den beiden. - Nicht nur an die rituellen Küsse "zur Belohnung" gewöhnt sich Margaux: "Er brachte mich immer irgendwie dazu, weitere Berührungen zuzulassen, wenn schon eine Schwelle überschritten war. (…) Dann kam der Tag, an dem Peter mich aufforderte, auch noch den Slip auszuziehen, weil er behauptete, echte Dschungeltiere trügen keine Kleidung."
Seite für Seite lassen sich die Momente der grenzüberschreitenden Salamitaktik nachfühlen, - - an welchem Punkt hätten wir (als Kind) STOP gesagt? hätten das STOP in uns deutlich genug spüren können? - Stattdessen verdichten sich bei dem Mädchen Margaux sacht Momente von Selbsthaß. Ein weiblicher Persönlichkeitsanteil für sexuelle Situationen entsteht und "gelegentlich bestand ich darauf, Peter seinen Sex in der Rolle eines Jungen zu geben, der ein Mädchen darstellte".
Das alles ist jedoch nur eine Ebene dieses Buches. Nicht weniger vom Bemühen um Wahrhaftigkeit getragen, vermittelt uns die Autorin (das Opfer) tiefe Einblicke in das Seelenleben des Täters, "mit dem ich fünfzehn Jahre eine Beziehung hatte". In den meisten geschilderten Situationen geht es synchron um dreierlei: die Wahrheit des Opfers, die zielorientierte Mißbrauchstaktik des Täters und die Wahrheit dieses pädosexuellen Mannes. Margaux Fragoso zeigt uns seine zweifellos authentische Zuneigung zu ihr, läßt uns den retardiert-kindlichen Persönlichkeitsanteil des Täters ahnen, dokumentiert seine Erzählung von eigenen traumatischen Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Zu spüren ist ihre tiefe Bindung zu ihm noch während des Buchschreibens, ihre Trauer über sein Leid und angesichts seines Todes.
Zweifellos spielten hier täteridentifikatorische Momente mit (das sognannte "Stockholm-Syndrom"); unglaubwürdig wird Fragosos Täterpsychogramm dadurch nicht, und nichts davon ist täterentschuldigend gemeint. - Beziehungslebendigkeit und Liebesfähigkeit als natürlicher Aspekt unsere Menschseins sucht sich Entfaltungsmöglichkeiten; das gilt auch für Kinder. Opferbezogene Prävention bedeutet zunächst, für kindgerechte soziale Begegnungs- und Beziehungsmöglichkeiten zu sorgen. Aber das ist ein anderes Thema..
Erklärbar bei Tätern wird ein solches Nebeneinander von authentischer Zuneigung zu einem Kind und krasser mißbräuchlicher Nötigung wohl durch Erkenntnisse der neueren Säuglingsforschung über Bereiche der Selbstempfindung, die in unterschiedlichem Maße reifen bzw. retardiert oder gestört sein können (vgl. STERN, hier auf der Liste) bzw. die psychotraumatologischen Konzeptionen zu dissoziativen Persönlichkeitsanteilen (u.a. van der Hart/Nijenhuis/Steele auf dieser Liste).
Der hier dargestellte Täter nimmt sich mit 66 Jahren das Leben, - weil Margaux endgültig von ihm weggeht in ihr eigenes Leben. Beim Schreiben des Buches geht es ihr unzweideutig um Prävention von pädosexuellen Taten. In ihrem Nachwort zitiert sie den Sexualtherapeuten Fred Berlin: "Wenn Menschen von Pädophilen reden, wollen sie ein Monster sehen. Doch für die öffentliche Sicherheit ist der beste Ansatz bei Pädophilie, den kranken Menschen dahinter zu behandeln. Das allein kann eine zukünftige Viktimisierung verhindern."
In diesem Buch geht es um einen pädosexuell orientierten Täter, bei dem sich deutlich ein vermutlich traumabedingter partieller Entwicklungsrückstand zeigt. Allerdings gibt es Mißbrauchstäter mit vermutlich völlig anderer Psychodynamik, - TäterInnen mit schwerwiegenden narzißtischen Störungen und komplizierter Überich-Problematik (denen es eher um Macht geht als um Sexualität), Täter mit erst in der Jugend entstandenen sexuellen Störungen (die sich schwächere Sexualobjekte suchen), sowie Täter mit bestimmten hirnorganischen Störungen. Voraussetzung für effektive Prävention ist es, diese Möglichkeiten voneinander unterscheiden zu lernen und jeweils angemessene Herangehensweisen für sie zu finden, - sowohl bei opfer- als auch bei täterorientierter Prävention.
Alice Sebold (auch eine Überlebende von sexueller Gewalt, siehe auf dieser Liste) schreibt zu diesem Buch: "Margaux Fragoso schafft das Undenkbare mit einfühlsamer Klarheit: Sie vermenschlicht einen Pädophilen. Und indem sie dies tut, macht sie sein Verbrechen um ein Unvorstellbares mehr bedrohlich. Das Porträt dieser Beziehung ist schockierend, enthüllend und furchtblos. Als Geschichte eines Opfers ist es ergreifend. Als literarisches Werk ist es ein Triumph."
Von Opfern sexuellen Mißbrauchs darf in keinem Fall erwartet oder gefordert werden, "Verständnis zu haben" für ihre Täter oder deren Taten bzw. einen "versöhnlichen" Kontakt mit ihnen zu suchen oder auch nur zuzulassen! So möchte ich Mißbrauchsopfern von der Lektüre dieses Buches eher abraten. Für Beratungsstellen und TherapeutInnen und Eltern ist es dagegen sehr zu empfehlen, - überhaupt für jeden Menschen, der mehr verstehen möchte von seelischen Hintergründen bestimmter pädosexueller Situationen.
[Pädosexualität]
> Siehe auf dieser Liste: DIEFENBACH, HEYDEN/JAROSCH