SPENCER, Judith: Jenny [DIS, erzählender Fallbericht]
Judith Spencer: Jenny. Das Martyrium eines Kindes
Frankfurt/M.1995
Wohl der erste (erzählende) Therapiebericht aus dem Bereich Rituelle Gewalt - und zumindest unter den auf Deutsch geschriebenen Büchern zu diesem Thema bis heute mit Abstand die seriöseste Darstellung. Klar, prägnant und psychologisch ausdifferenziert, flüssig zu lesen, keinerlei Kolportage!
Der erste Teil beschreibt die traumatischen Zusammenhänge bei Jenny, einer Überlebenden mit DIS. Sexuelle Gewalt und Folter bei der Mutter steht am Anfang; bald kommt die Täterin in Kontakt mit einer satanischen Sekte.. - Ohne Sensationsmache, aber prägnant werden in diesem (bereits 1989 erschienenen) Buch die kaum vorstellbaren Gräßlichkeiten dargestellt, denen Babys, Kinder, Jugendliche und Frauen in derlei Gruppen ausgesetzt sind. - Täterkontakt gibt es im Erwachsenenleben nicht mehr, jedoch folgt dann die allzu typische, teilweise retraumatisierende Odyssee durch Psychiatrien und psychotherapeutische Praxen. Der zweite Teil beschreibt die beeindruckende DIS-spezifische Traumatherapie über etwa 5 Jahre.
Die Autorin ist Krankenschwester, hat ihr Buch in mehrjährigem engen Kontakt mit der Überlebenden und ihren TherapeutInnen (einem Ehepaar) geschrieben. Aurel Ende, der Übersetzer, hat 1984-93 das wichtige 'Jahrbuch der Kindheit' (Beltz Verlag) mit herausgegeben. Diese erzählende Dokumentation ist ähnlich differenziert wie das Buch von Truddi Chase (siehe auf dieser Liste), aber wesentlich klarer nachvollziehbar für LeserInnen, die kaum Erfahrung haben mit DIS. Viele typische Themen einer DIS-Therapie und phantasievolle Lösungsmöglichkeiten werden nachvollziehbar dargestellt. Übrigens kommt sogar die ambivalente Funktion von stationärer Traumatherpie zur Sprache: "Sie haben mir nicht geholfen, in dieser Welt leben zu lernen. Aber sie haben es mir bequemer gemacht, in meinen Welten zu sein." (S. 386)
Deutlich wird die Überforderung von TherapeutInnen, wenn sie erstmalig den Ansturm dissoziativer Persönlichkeiten erleben, die ihrerseits zum erstenmal genügend Vertrauen haben, sich als hilfesuchend zu offenbaren. - Und auch die TherapeutInnen müssen sich schützen und spalten Informationen ab, die sie (noch) nicht ertragen können, sie fragen ggf. auch aus diesem Grund manchmal nicht weiter..
In vieler Hinsicht modellhaft wird die von mitmenschlicher Achtung bestimmte "Simultantherapie" mit unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten dargestellt. Deutlich wird, wie die Notwendigkeit, die Selbstverantwortlichkeit der (multiplen) Klientin anzuregen, eine ständige Gratwanderung zwischen dem therapeutischen Bezug auf dem erst vage ansprechbaren Selbst der Klientin und einzelnen Teilpersönlichkeiten erfordert.
Nicht unbedingt vorbildhaft, zumindest bedenklich ist in diesem Fallbericht der Umgang mit Fusionen (hier "Integrationen" genannt).
Sofern eine erwachsene, therapeutisch ansprechbare Persönlichkeit zweifelsfrei die Geburtspersönlichkeit ist, kann die Therapie frühzeitig daran ausgerichtet werden, daß diese "die Persönlichkeiten geschaffen hat". Es liegt dann nahe, durch Auflösen amnestischer Barrieren dieser Ursprungspersönlichkeit traumatische Erinnerungen "zurückzugeben" in der Hoffnung, daß dadurch die bisherigen Hüter solcher Erinnerungen funktionslos werden, also fusioniert sind. - Oft oder meist ist es aber wohl anders, - ist die ansprechbare erwachsene Persönlichkeit eine dissoziative ANP (im Sinne der Strukturellen Dissoziation, vgl. van der Hart/Nijenhuis/Steele hier auf dieser Liste), also nicht die Geburtspersönlichkeit! Dann wird eine derartige vom Therapeuten intendierte Zielsetzung zu dissoziativen Anpassungsleistungen führen: Teilpersönlichkeiten verschwinden nur scheinbar, weil sie sich als nicht erwünscht erleben.
In dieser Fallgeschichte war die Ursprungspersönlichkeit tatsächlich frühzeitig präsent und konnte als solche in die Therapie einbezogen werden. Dies verführte die TherapeutInnen zu einer auch in diesem Fall nicht tragfähigen Fusionsautomatik: Innerhalb der ersten 3 Monate 34 Persönlichkeiten "integriert" (fusioniert) auf 3! - Kaum aufgetaucht und schon verschwunden in der Geburtspersönlichkeit, - kann das funktionieren?! Im Laufe des Buches wird deutlich, daß auch hier etliche der Fusionen Anpassungsleistungen des Systems an den Therapeuten waren: in Krisen waren sie umgehend wieder präsent.
Heutzutage gibt es wohl übereinstimmende therapeutische Erfahrungen, daß Fusionen in keinem Fall vom Therapeuten in derart forcierter Weise initiiert werden sollten, selbst wenn dies mit hypnotherapeutischen Methoden vordergründig möglich ist. Die speziellen traumatischen Erfahrungen der Teilpersönlichkeiten (einschließlich der Innenkinder) wie auch ihre individuellen Ressourcen müssen einbezogen werden in die therapeutische Aufarbeitung wie in den therapeutisch begleiteten Nachreifungsprozeß.
Vollständige Integration der dissoziativen Persönlichkeiten wird heutzutage nicht mehr als Therapieziel gesehen, da sie nicht notwendig zu sein scheint für die Integration der traumatischen Erfahrungen, - und allem Anschein nach eh nur selten erreicht wird.
Ein Buch, das im Hinblick auf das Thema Rituelle Gewalt seiner Zeit um viele Jahre voraus war, ein Buch, aus dem noch immer viel zu lernen ist! Leider ist es seit Jahren vergriffen! Hallo, Fischer-Verlag!