KAMPUSCH, Natascha: 3096 Tage [Traumatische Entführung/Gefangenschaft]
(in Koperation mit Heike Gronemeier und Corinna Milborn)
(Berlin 2010)
Im Jahr 1998 wurde die damals zehnjährige Österreicherin in Wien entführt und von ihrem Entführer mehr als acht Jahre gefangen gehalten. 2006 konnte sie fliehen. - Ihre hier vorliegende eigene Darstellung der Entführung, der Zeit in Gefangenschaft sowie der Umstände bei ihrer Selbstbefreiung und in der ersten Zeit danach ist kein oberflächlicher Sensationsbericht, wie die extreme Medienpräsenz des "Falles" vermuten lassen. Es ist vielmehr ein nuancierter Bericht darüber, wie dieses junge Mädchen die traumatische Zeit überleben konnte. -
Von Anfang an ist es Natascha Kampusch gelungen, sich eine innere Welt zu bewahren aus Erinnerungen, Hoffnungen, Zielen und kleinen Manifestationen ihrer Eigenwelt innerhalb der zellenartigen Raums, in dem sie sich die allermeiste Zeit aufhalten mußte. Zum anderen war es ihr möglich, durchgängig ein Abkippen in Haß und Feindschaft gegenüber dem Täter zu vermeiden. Selbst angesichts von Demütigungen, körperlicher Gewalt und zunehmenden Machtinszenierungen des Täters gelang es ihr, ihn als psychisch krank zu erkennen. (Sexuelle Gewalt kam nach der Darstellung im Buch nur in sehr untergeordenter Weise vor.) Kampusch widerspricht, wenn ihr Verhältnis zum Täter in den Medien häufig in die Schublade "Stockholm-Syndrom" gesteckt und dadurch - wie sie meint - als pathologisch diagnostiziert wird. Demgegenüber handelt es sich beim "Stockholm-Syndrom" um nichts krankhaftes, sondern um eine natürliche und letztlich gesunde Überlebensstrategie in einer verbrecherischen, pathologischen und durchaus unnatürlichen Situation! Derselbe psychische Zusammenhang findet sich bei scheinbar täteridentifizierten Teilpersönlichkeiten bei Traumaüberlebenden mit DIS oder DDNOS.
Der Täter war für das zunächst zehnjährige Mädchen über acht Jahre nicht nur die einzige Bezugsperson, von dem sie wenigstens Momente von Zuwendung bekommen konnte, sie war zugleich in einer kaum vorstellbaren Weise in jedem Augenblick des Tages und der Nacht von ihm abhängig: eingeschlossen in ein Verlies, das nur durch mehrere Türen, darunter eine Tresorwand, zu erreichen war, dessen äußerer Zugang unter einer Klappe in der Garage versteckt war! Wäre dem Täter etwas zugestoßen oder hätte seine kranke Seele ihn von seinem Interesse an seiner Sklavin abgelenkt, wäre Natascha dort unten verhungert! Und sie wußte es.
Dieses Buch bietet eine Fülle von Denkanstößen, nicht zuletzt zum Thema psychische Ressourcen, Resilienz. Manches von meinen eigenen Gedanken zu Natascha Kampusch und ihrer bisherigen Lebensgeschichte möchte ich für mich behalten, - um nicht beizutragen zu dem teilweise widerlichen Mediengeschwätz.