PERRY, Bruce D.: 'Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde' [populärwissenschaftlich]
Bruce D. Perry / Maia Szlavitz: 'Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde' [populärwissenschaftlich]
(München 2008)
Sehr lesenswerte Fallberichte eines Kinderpsychiaters und Kindertraumatherpeuten, der neurobiologische Grundlagenforschung zur Neuro-Biochemie von Streß und Angst macht. Begründer des "neurosequentiellen" Ansatzes in der Traumatherapie. (Seine Koautorin ist Wissenschaftsjournalistin.)
Bruce Perry wird als neurobiologischer Foscher und auch im Hinblick auf seinen neurosequentiellen Ansatz durchaus zustimmend rezipiert innerhalb des psychotraumatologischen Mainstreams, er hat aber eine dezidiert abweichende Meinung über die Funktion des Gedächtnisses. So hält er nichts von der Annahme einer traumabedingten dissoziativen Amnesie. Insofern nähert er sich in dieser Frage bedauerlicherweise den Vorstellungen der "False Memory"-Protagonisten. - Auch die Existenz von Ritueller Gewalt bezweifelt er in diesem Buch (siehe hierzu ausführlicher in dem entsprechenden D+T-Info!).
Dennoch steht Perry zweifellos sehr engagiert und auf der Grundlage von viel Wissen und Erfahrung, Einfühlungsbvermögen und Menschenliebe auf der Seite traumatisierter Kinder, - manchmal erinnert mich sein Blick auf Kinder an Janusz KORCZAKs Bücher. Er scheint ein Einzelkämpfer zu sein, diesen Eindruck vermittelt auch die Website des von ihm begründeten Instituts http://www.childtrauma.org/ - was vielleicht auch an seiner sehr deutlichen Kritik an kinderfeindlicher Bürokratie und uneinfühlsamen Therapeuten und Psychiatern liegt. (Seine erste Frau wurde 19jährig im Zusammenhang mit sexueller Gewalt ermordet.)
Die von seiner Arbeitsgruppe konzipierte neurosequentielle Therapie für frühtraumatisierte Kinder meint Interventionen, die traumabedingt beeinträchtigte neurologische Entwicklungsphasen nachreifen lassen, - also bei sehr frühen Traumatisierungen Beeinträchtigungen im Hirnstamm (es geht hier um als angenehm erfahrene Rhythmen, Halt, Berührung, Gehaltenwerden, häufige Wiederholung, Ausdauer), darauf aufbauend die Funktionen des Kleinhirns (Integration und Koordination von Bewegungen in Raum und Zeit), wiederum darauf aufbauend die Entwicklung des limbischen Systems (Nähe und Distanz, Beziehungerleben), zuletzt die Sprachentwicklung im Neokortex. - Zum Einsatz kommen in der Praxis Berührungen und Massage, Musik- und Bewegungsgruppen, spieltherapeutische Möglichkeiten und manches andere, jeweils auf Grundlage einer subtilen Diagnose der individuellen (!) neurobiologischen Einschränkungen. In dem hier besprochenen Buch wird dieser Ansatz allerdings nur gestreift.
Sehr schönes und wertvolles Buch!