LEVINE, Peter A. / Maggie Kline: Kinder vor seelischen Verletzungen schützen [Ratgeber]
Peter A. Levine / Maggie Kline: Kinder vor seelischen Verletzungen schützen (München 2010)
Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen von Peter Levine zu seiner traumatherapeutischen Methode SOMATIC EXPERIENCING wendet sich dieses Buch ausdrücklich an Eltern und sonstige Bezugspersonen von Kindern. Ich möchte es insgesamt dem Bereich der Traumapädagogik zuordnen. Es geht nicht nur um das Erkennen von Akuttraumatisierungen und den Umgang mit betroffenen Kindern, sondern auch um Prophylaxe, um das Stärken von Resilienz. (Die Co-Autorin Maggie Kline ist Familien- und Kindertherapeutin, arbeitete zeitweilig als Schulpsychologin.)
Schwerpunkt des Somatic Experiencing ist der innere neurobiologische Prozeß der Traumaverarbeitung. Natürliche, angeborene Ressourcen bei Kindern zu bestätigen und zu fördern, stärkt seelische Widerstandskräfte (Resilienz) für schlimme Lebenserfahrungen, die ansonsten zu traumatischen Verhärtungen werden können.
In manchmal fast manualartiger Konkretheit stellt dieses Buch eine Fülle von Übungen für Eltern und andere Bezugspersonen vor. Implizit knüpft es dabei an elternorientierte Methoden für den Bereich der primären Bindung an (Brisch/SAFE u.a.). Eltern und andere Bezugspersonen werden achtungsvoll, intelligent, an keiner Stelle unangemessen simplifizierend angesprochen, - eine Gratwanderung, die den beiden Autoren sehr gut gelingt! Bereits Dargestelltes wird immer wieder aufgenommen, um neu daran anzuknüpfen und das Verständnis auf diese Weise zu vertiefen.
Durch die präzise und praktisch problemlos nachvollziehbaren Übungen und sonstigen Hinweise kann die Veröffentlichung zweifellos auch sehr hilfreich sein für professionelle Betreuer von Kindern. Die Darstellung bezieht sich durchgängig auf unterschiedliche traumatherapeutische Erkenntnisse und bietet dadurch Möglichkeiten zur fachlichen Vertiefung.
Sachte wird immer wieder der Neigung entgegengesteuert, dem Kind eigene Interpretationen und Empfindungen nahezulegen oder aufzudrücken: "Versuchen Sie nicht, seine Gefühle >in Ordnung zu bringen< oder zu ändern." (123) Überhaupt wurde mir beim Lesen deutlich, wie oft wir nach potentiell traumatisierenden Situationen reflexhaft genau das Verkehrte machen: Wir versuchen, das betroffene Kind abzulenken, wenn das Kind reden möchte über das Geschehen (dann wäre Unterstützung beim bewußten Verarbeiten zweckmäßig), - und wir wollen mit dem Kind reden, wenn es weint, zittert oder zur Ruhe kommt; dann aber liegt die Verarbeitung beim Kind auf inneren Prozessen! Dieses Buch von Peter Levine und Maggie Kline ist eine große Hilfe, derlei klarer zu erkennen und zu unterscheiden.
Natürlich gilt all das an sich genauso für Erwachsene in entsprechenden Situationen. Diese Veröffentlichung orientiert sich jedoch erfreulicherweise durchgängig an kindgerechten Möglichkeiten einer an Resilienz und inneren Ressourcen orientierten Trauma-Prophylaxe. Diese sollten unbedingt zum Curriculum von Vorschul- und Grundschulpädagogik gehören! Dabei geht es nicht "nur" um Trauma, sondern - analog zu Schutzimpfungen - um die Stärkung seelischer Widerstandskräfte für psychische Gefährdungen, die in unserer sozialen Normalität wohl genauso häufig vorkommen wie die somatischen "Kinderkrankheiten". Dazu gehört nicht nur sexueller Mißbrauch, sondern auch die Situation von Scheidungskindern, es geht um Trauer (auch im Unterschied zu Trauma) und um das allzuoft vernachlässigte Thema der seelischen Belastungen bei medizinischen Eingriffen. (Ein ganzes Kapitel ist Anregungen zur Verbesserung von Traumaprävention in Kinderkrankenhäusern und anderen Institutionen gewidmet.)
Ein wunderbares Buch, dem ich weiteste Verbreitung wünsche! - Dennoch soll ein Wermutstropfen nicht verschwiegen werden, nämlich der Eindruck, daß die Methode des Somatic Experiencing ® (im Text immer mit dem Warenzeichensymbol!) sich gerade Institutionen/Adminstrationen andienen möchte als Universalheilmittel zur Traumaprävention bei allen nur denkbaren globalen Katastrophen.