RUSH, FLORENCE: Das bestgehütete Geheimnis - Sexueller Kindesmissbrauch [Sachbuch]
Florence Rush: Das bestgehütete Geheimnis - Sexueller Kindesmissbrauch
(Berlin 1982: Orlanda Frauenverlag)
Dieses Buch der US-amerikanischen Sozialarbeiterin Florence Rush machte in den 80er Jahren den massenhaften Tatbestand von sexueller Gewalt, sexuellem Mißbrauch von Kindern erstmalig auch in der BRD zum öffentlichen Thema, zusammen mit Veröffentlichungen von Alice Miller und in der Zeitschrift Emma (Alice Schwarzer). Ernstgenommen wurden diese Hinweise allerdings vorrangig in feministischen Kreisen. Die breite Öffentlichkeit sah in Inzest und anderweitigen sexuellen Grenzüberschreitungen und sexueller Gewalt an Kindern noch jahrelang, jahrzehntelang etwas eher Seltenes, ich auch.
Man möchte meinen, daß es heutzutage, angesichts medienaufwühlenden Kontrontationen und Diskussionen zu diesem Thema, ausreichend öffentliches Wissen gibt über grundlegende Zusammenhänge von sexueller Gewalt an Kindern. Aber das stimmt keineswegs.
Im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche und historische Zusammenhänge zeigt sich der Klassiker von Florence Rush gerade angesichts des ziemlich geschichtslosen, von Internetmedien geprägten Diskurses als bedeutsam. Die Autorin belegt eine durchgängige Tradition der sexuellen Ausbeutung von Kindern (Mädchen wie Jungen) in denjenigen Kulturen, die wir als Quellen unserer Zivilisation, als Vorläufer unserer Gesellschaft verstehen. Hier geht es vor allem um die durch Bibel und Talmud dokumentierte Gesellschaft des alten Israel, es geht um die Praxis der "Pädophilie" im alten Griechenland sowie um die bis heute virulente Tradition von Kinder-Ehen in Indien.
Daran anschließend stellt Florence Rush die im 19. Jahrhundert zunehmende kommerzialisierte sexuelle Ausbeutung von Kindern (vor allem Mädchen) innerhalb unsrer Zivilisation dar. Am Anfang standen scheinbar harmlose Mythen und Märchen; dann läßt sie uns dann teilhaben an der schrittweisen Verfestigung einer wissenschaftlich (Sigmund Freud, Kriminologie) wie medial (Literatur, Film) fundierten selbstverständlichen Ignoranz gegenüber sexuellem Kindesmißbrauch.
Der Buchtitel stimmt gerade nicht: es war eigentlich nie ein "Geheimnis", - vielmehr hat sich nie jemand wirklich für das Leid der betroffenen Mädchen und Jungen interessiert!
Aus der Tatsache, daß sexuelle Ausbeutung von Kindern über Jahrhunderte und in unterschiedlichen Kulturen als selbstverständlich oder jedenfalls unproblematisch galt, müssen wir schließen, daß es dazu wohl keiner speziellen psychischen Struktur bedarf (Stichwort: "Pädophilie") und auch keiner spezieller politischer Ausrichtung (Stichwort: "linke Pädagogen", "GRÜNE", "katholische Erzieher und Bischöfe"). Es scheint, daß die Neigung zu derartiger Sexualpraxis (und Machtausübung) Teil des allgemeinen, "normalen" psychosexuellen Zustands des Menschen (wohl vorrangig des Mannes) ist. Zu solchen Reflexionen reicht jedoch der mediale Diskurs nicht - das ist nachvollziehbar. So sagt der Traumatherapeut Jürgen Lemke noch heutzutage: "Außer in ominösen Geschichten über die alten Griechen, bei denen Pädophilie angeblich gang und gäbe war, wurde Sex mit Kindern in allen Epochen der Menschheit mit Strafe belegt." (in THE EUROPEAN 12.6.2013) - Nichts könnte falscher sein.
Es müßte also grundlegender nachgedacht werden über die Funktion, die Sexualität für uns alle hat. Dies geschieht unter anderem in Arbieten der Kritischen Sexualwissenschaft, oder im Rahmen der kritischen Stellungnahmen zu Pornografie und (Zwangs-)Prostitution. - Der Klassiker von Florence Rush sollte gerade heutzutage neu gelesen werden, die von ihr zusmmengesuchten Quellen sollten umfassend ausgewertet werden.
"Wenn wir die Entwicklung von der Vergangenheit zur Gegenwart nicht klar erkennen, neigen wir dazu, in einzelnen publik gewordenen Vorfällen dieses uralten Brauchs eine Reihe bizarrer, unerklärlicher, urplötzlicher Ausbüche zu sehen. Infolgedessen werden Erwachsene mit sexueller Neigung zu Kindern von Einrichtungen, die den Betroffenen helfen sollen, als Kriminelle, Perverse oder als Kranke mit irgendwelchen Hormonstörungen oder sonstigen individuellen Anomalitäten betrachtet und behandelt. Meiner Meinung nach wäre ein totales Umerziehungsprogramm eher am Platz, eine Entprogrammeirung von dem jahrhundertealten, weltweiten Glauben, ein Mann habe einen Anspruch auf die Ausübung sexueller Macht und Vorrechte." (Florence Rush)