VAN DERBUR, Marilyn: Tagkind – Nachtkind. Das Trauma sexueller Gewalt
MARILYN VAN DERBUR: Tagkind – Nachtkind. Das Trauma sexueller Gewalt
(Kröning 2011)
Marilyn Van Derbur (geboren 1937) wuchs auf als Märchenprinzessin in der Glamourwelt der amerikanischen High Society. Daß sie von ihrem Vater, einem auch gesellschaftlich einflußreichen Millionär, vom 5. bis zum 18. Lebensjahr sexuell brutal mißbraucht wurde, war ihrem Bewußtsein jahrzehntelang entzogen: es war abgespalten (dissoziiert). Mit 20 wurde sie "Miss America". – Ihr in seiner inhaltlichen Nuanciertheit und menschlichen Authentizität tief berührender, geradezu überwältigender Lebensbericht hat mehrere Schwerpunkte:
- Die Umstände ihrer Sozialisation im US-amerikanischen "Geldadel", die Beziehung des "Tagkindes" zum Vater sowie spezielle Einflußfaktoren der amerikanischen Gesellschaft,
- das schrittweise eigene Verständnis für unerklärliche Schmerzen, Ängste und irritierende Verhaltensweisen, zuletzt Van Derburs Bewußtsein über die traumatische Kindheit, sowie die konkreten Heilungsschritte,
- Van Derburs Gang in die Öffentlichkeit nach dem 50. Lebensjahr, Erfahrungen bei ihrer bis heute andauernden Aufklärungsarbeit zum Thema Inzest/sexuelle Gewalt,
- Hinweise und Ratschläge zum Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt.
Marilyn Van Derburs Vater, der zweifellos narzißtisch schwerst gestörte und machtbesessene Millionär, befand sich in seinem öffentlichen Agieren im Einklang mit grundlegenden menschenverachtend-verdinglichenden Aspekten der US-amerikanischen Gesellschaft. Die hollywoodartige Kulisse des Elternhauses zeigt mit ihrem unbedingten Zusammenhalt nach außen die typische Konditionierung dysfunktionaler Familien. Zugleich war Marilyn (wie alle um sie herum) der an vorweisbarer Leistung, oft nur an äußerem Glänzen orientierten Gruppensozialisation US-amerikanischer High Schools und Universitäten sowie einem rigiden Normendruck innerhalb der "christlich" formierten lokalen Gemeinde ausgesetzt. Dieses hermetische Räderwerk des sozialen Funktionierens bestärkte bei ihr zweifellos die jahrzehntelange Abspaltung der traumatischen Kindheitserfahrungen; – zugleich bildete es spezielle Kompensationsmöglichkeiten, die Van Derbur umfassend genutzt hat.
Nuanciert werden die Schritte ihrer zumindest partiellen Emanzipation dargestellt, zunächst im Hochschulleben, als "Miss America" (einer Art medialem Prinzessinnenwunder, für das in der US-Gesellschaft ein für uns kaum nachvollziehbares existenzielles Bedürfnis zu bestehen scheint), daran anschließend als Rednerin bei hunderten von Veranstaltungen und Fernsehsendungen. Hier schloß sich ein magischer Kreis zu dem vom "Tagkind" geliebten (Inzest-)Vater, unter dessen rhetorischer Brillanz im Interesse seiner narzißtischen Machtausübung sie selbst zu leiden gehabt hatte. – Marilyn Van Derbur wird eine professionelle Motivationstrainerin!
Gerade unser distanzierter Blick auf diese Schicht der US-Gesellschaft hilft uns, das grundsätzliche Zusammenspiel von sexueller Gewalt im Familienverbund (Inzest) mit der sozialen Normalität, zu der eine Familie gehört, zu verstehen. Bei uns gibt es andere, aber wohl kaum weniger rigide soziale Stabilisierungs- und Vertuschungsmöglichkeiten für dysfunktionale Familien.
Marilyn Van Derburs zunehmende Routine als Festrednerin, auch die Berufswahl als Motivationstrainerin dürften zunächst vorrangig traumatische Ängste kanalisiert bzw, durch Eustress kompensiert haben. Zunehmend begriff sie ihre Berühmtheit, ihre rhetorische Autorität jedoch als Schicksalsaufgabe. Eine entscheidende Weichenstellung bedeutete die Begegnung mit einem straffälligen Jungen, dem sie zu helfen versuchte. Atemberaubend und in manchem wie ein modernes Märchen liest sich die nun folgende schrittweise Entfaltung ihres Heilungsweges, zu dem immer auch das Bemühen gehörte, andere Menschen zu unterstützen, – nicht nur Manager im Interesse des Umsatzes, sondern Menschen zu mitmenschlichem Verhalten zu motivieren. In dieser Lebensbewegung verband Van Derbur die gesellschaftliche Konditionierung ihrer Herkunftsschicht zu Perfektion, Leistung und Effizienz mit ihrer authentischen Orientierung an menschlicher Wahrhaftigkeit und seelischer Gesundheit, – und fand auf diese Weise auch die Kraft, das traumatisierte "Nachtkind" ins Boot zu holen.
Thema des vorliegenden Buches sind nicht die psychotraumatologisch relevanten Nuancen der sexuellen Gewalt durch den Vater, sondern die soziale und gesellschaftliche Situation, die solchen innerfamiliären Mißbrauch begünstigt, sowie andererseits die Erfahrung, daß Gesellschaften grundsätzlich lernfähig sind, daß tradiierten Tabus auflösbar sind.
Ihr eigentlicher Heilungsweg war eine Odyssee durch unterschiedlichste, teilweise auch retraumatisierende Therapieerfahrungen. Roter Faden blieb eine Art privates Therapieteam: ein ehemaliger Studentenpfarrer, ihr Ehemann sowie ihre Tochter.
Etwa ab dem 50. Lebensjahr nutzte sie ihre mediale Popularität, um konsequent, mit einem kaum begreiflichen Mut, in ganz großem Stil Aufklärungssarbeit zu machen zum Thema Inzest. In den USA begann sich durch das massenmediale coming out dieser ehemaligen "Miss America" offenbar das allgemeine Inzesttabu aufzulösen (Im Effekt vielleicht ähnlich der Funktion, die Alice Schwarzer und Alice Miller seinerzeit in der BRD hatten).
Im Verlauf von Marilyn Van Derburs Aufklärungsfeldzug für Inzestopfer haben sich offenbar Tausende von Betroffenen an sie gewandt; von vielen solcher Begegnungen berichtet sie kurz – und eine Vielzahl weiterer, unerzählt bleibender Schicksale ist für den Leser zu ahnen. Unverblümt verweist die Autorin in diesem Zusammenhang darauf, daß auch Mütter Inzesttäterinnen werden, sowie auf die ihrer Erfahrung nach riesige Dunkelziffer von Inzestmißbrauch durch Geschwister. Unmißverständlich ist ihr Plädoyer für täterbezogene Hilfe. Demgegenüber findet sie klare Worte gegen die Medienkampagne der "False Memory"-Interessengruppe. Nachzusehen ist der ehemaligen "Miss America" ihr blinder Fleck hinsichtlich der Mitverantwortung der Massenmedien sowie der Werbung für Frauenfeindlichkeit und pädosexuelle Ästhetisierung. (Inzestuösen Mißbrauch durch ältere Geschwister begründet sie mit "den in Aufruhr geratenen Hormonen".)
Die letzten 150 Seiten des Buches sind eine Art Ratgeber der Autorin. Leserzugewandt, begründet in eigener Erfahrung und eigener Reflexion wie das ganze Buch, teilt Van Derbur in diesen Kapiteln eine Fülle von Hinweisen auf Forschungen und Statistiken mit, dazu berichtet sie von eigenen Begegnungen und Rechercheergebnisse. Wegen der Orientierung an sozialen Umständen in den USA sind diese Passagen nur teilweise übertragbar auf die konkrete Situation in Deutschland; alle grundlegenden Überlegungen bleiben relevant auch für uns. – Eine auch nur annähernd differenzierte Darstellung der Situation rund um das Thema Inzest gibt es für deutsche Verhältnisse meines Wissens nicht.
Den Abschluß machen Literaturhinweise der Autorin (mit Links). Sie werden ergänzt durch eine sehr umfangreiche Liste zumeist allgemeinverständlicher deutscher Titel, in der allerdings Alice Miller nicht hätte fehlen dürfen. Übersetzt wurde das Buch von der Traumatherapeutin Gaby Breitenbach (und I. Alexander).
Vorbehaltlos eine wunderbare, faszinierende, berührende Veröffentlichung, für die dem Verlag nicht genug gedankt werden kann. Obwohl sich viel geändert hat im Hinblick auf die öffentliche Anerkennung von Überlebenden – in den USA, aber auch bei uns –, kann das Vorbild dieser Frau noch heute viel Mut machen!
Rezension für Trauma. Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen (2015/Heft 2)