Jegodtka, Renate / Peter Luitjens: Systemische Traumapädagogik
Renate Jegodtka / Peter Luitjens: Systemische Traumapädagogik.
Traumasensible Begleitung und Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern
(Göttingen 2016)
Psychotraumatologische Ansätze von Therapie und Pädagogik orientieren sich vorrangig an innerpsychischen neurobiologischen Zusammenhängen bei Überlebenden von psychischer Traumatisierung. Psychologische und soziale Folgen in mitmenschlichen Beziehungen oder im weiteren sozialen Umfeld kommen hierbei zu kurz. Sowohl psychoanalytisch als auch systemisch orientierte Traumatherapie (und Traumapädagogik) beschäftigen sich vorrangig mit der zwischenmenschlichen Dimension vonTraumatisierung, dies im Rahmen ihrer jeweiligen theoretischen Konzeptionen. Alle drei Blickwinkel tragen erheblich bei zur Unterstützung von Menschen nach psychsicher Traumatisierung und können (oder könnten) sich gut ergänzen.
Hier nun eines der relativ seltenen praxisorientierten Fachbücher aus dem Blickwinkel der Systemischen Therapie. –
Von den ersten Seiten an fällt die durchgängig achtsame Sprache auf: unaufgeregt, prägnant, einfühlsam. Ein ausgewogenes Verhältnis theoretischer/konzeptioneller und praktischer Momente. Eine gute Einführung in allgemeine Zusammenhänge bei psychischen Traumatisierungen (mit einer wichtigen Einschränkung), sowie eine gute Einstimmung in systemisches Denken. Dreißig Seiten sind einer Einführung in traumasensibles Yoga gewidmet (durch Peter Luitjens). Traumasensibles Yoga wird seit den späten 90er Jahren für unterschiedliche Klientel angeboten, so für Kriegsveteranen, im Zusammenhang mit Achtsamkeits-Ansätzen, auch durch denTraumaforscher Bessel van der Kolk.
Zu kurz kommt das Thema der traumabedingten Dissoziation. Zwar wird "Teilearbeit" vorgestellt, orientiert am Modell der "Inneren Familie" von Richard C. Schwartz sowie einer Weiterentwicklung der Ego State-Modells (Watkins & Watkins). Im Gegensatz zum psychotraumatologischen Verständnis der traumabezogenen Dissoziation (Stichwort wäre hier "Strukturelle Dissoziation") bzw. in Analogie zum psychoanaytischen Modell wird jedoch beim Klienten mit Traumaerfahrungen ein übergeordnetes "Selbst" bzw. "Ich" angenommen und gesucht. (Dies beruht auf heute im wesentlichen widerlegten Annahmen der traditionellen psychoanalytischen Entwicklungspsychologie.) – Von der Annahme einer grundlegend (nämlich neurobiologisch) anderen Struktur und Genese von Persönlichkeitsanteilen aufgrund von traumatischer Dissoziation grenzen sich die Autoren explizit ab. (Seite 139) Dies hat zur Folge, daß sie der Rigidität und geringe Entwicklungsfähigkeit von traumabedingten dissoziativen Anteilen, wie sie nach bestimmten traumatischen Frühstörungen (vor allem Gewalt durch Bezugspersonen) typischerweise vorkommen, kaum gerecht werden können. "Teilpersönlichkeiten" nach derartigen Schädigungen sind eben keine "vollständigen Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten" (137), sondern Persönlichkeitsanteile mit sehr eingeschränktem Repertoire an Empfindungen, kognitiven Ressourcen und im Hinblick auf ihre Sicht der Welt (theory of mind), die im allgemeinen nur im Zusammenhang mit entsprechend qualifizierter Therapie lern- und entwicklungsfähig sind. Dies gilt nicht nur, aber auch für Persönlichkeitsanteile bei DIS oder DDNOS, um die es in der vorliegenden Veröffentlichung niemals zu gehen scheint.
Es ist also zwiespältig: Im Hinblick auf die meisten vermittelten Inhalte ist dies ein Lehrbuch im besten Sinn. (Manchmal allerdings war ich unsicher, ob MitarbeiterInnen in der betreuerischen Praxis nun wirklich die Muße finden, dieses auch intellektuell, konzeptionell nuancierte Buch mit seinen unzähligen Nunancen zu verinnerlichen.) Aber wem wird auf seiner Grundlage geholfen werden können? Zweifellos vielen Kindern und Jugendlichen mit dem, was gemeinhin "Verhaltensauffälligkeiten" genannt wird. Aber können die unzähligen achtsamen, klugen, nuancierten Arbeitsmöglichkeiten frühtraumatisierten Kindern und Jugendlichen, die niemals im Leben verankert waren, dabei helfen, sich "wieder im Leben zu verankern"? Können sie Kindern und Jugendlichen, die Sicherheit und Vertrauen bereits im frühesten Kindesalter nicht erfahren haben, solches Vertrauen vermitteln, ohne entsprechend konsequent von der grundlegenden Isolation und den amnestischen Blockaden entsprechender Persönlichkeitsanteile auszugehen und sie dann vielleicht doch zu erreichen?
Im letzten Drittel des Buches wird anhand dreier Fallbeschreibungen Systemische Traumapädagogik und traumaorientierte Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern veranschaulicht. Dazu kann ein "traumaorientiertes systemisches Familiencoaching" gehören. Zweifellos kommen durch den systemischen Ansatz manche traumarelevante Faktoren (auch Ressourcen) gewissermaßen systematisch ins Blickfeld, die leicht übersehen werden, wenn Traumaarbeit sich vorrangig am seelischen Innenleben der Betroffenen orientiert (sei es auf psychotraumatologischer oder psychoanalytischer Grundlage).
Nur in einem Satz angesprochen wird die Gefahr, daß das grundlegende Neutralitätspostulat des Systemischen Ansatzes (gegenüber sämtlichen Beteiligten eines sozialen Systems, also z.B. der Familie) "die klare Position gegenüber Gewalt erschweren" kann. Für mich zumindest blieb kaum vorstellbar, wie Traumapädagogik mit einem derartigen Neutralitätspostulat aussehen kann gegenüber KlientInnen, die als Kind kontinuierlich von Gewalt durch Bezugspersonen betroffen waren. Die hier nötige subtilste Gratwanderung müßte nach meinem Empfinden im Mittelpunkt diese Buches gestanden haben. – Schwerpunkt psychosozialer Arbeit bei häuslicher Gewalt ist für den hier vertretenen Systemischen Ansatz zu Recht, die Gewaltspirale aufzulösen. Dies allerdings ist noch keine Traumapädagogik.
Insgesamt: eine Fülle von praxisrelevanten Hinweisen, Ideen, Anstößen für die sozialpädagogische Begleitung, Betreuung und Beratung von Kindern und Jugendlichen mit seelisch belasteter Biografie, die immerhin über zumindest rudimentär gesunde Entwicklungsgrundlagen in der frühen Kindheit verfügen. Den Untiefen, Zerstörungen, Selbststörungen und Entwicklungsdefiziten nach schwerwiegenden traumatischen Frühstörungen wird der hier vorgestellte Ansatz wahrscheinlich kaum gerecht.