Sanné, Zora / Beate Kneuse: Wie viele Gesichter hat die Angst?
Zora Sanné / Beate Kneuse: Wie viele Gesichter hat die Angst? Eine wahre Geschichte
(Norderstedt 2017: BoD)
Zora Sanné hat sadistische sexualisierte Gewalt (durch den Erzeuger) sowie Ignoranz und
Lieblosigkeit einer alkoholkranken Mutter überlebt. Der Bericht der Journalistin Beate Kneuse entstand in mehr als zehnjähriger Arbeit in enger Zusammenarbeit mit Zora Sanné.
Familiäre Gewalt wird hier in ihrer Einbettung in die soziale Normalität gezeigt, dazu gehören auch die Versuche des Opfers, in kindgemäßer Weise auszubrechen, Hilfe zu finden. Dazu gehören viele Erwachsene (Angehörige, Nachbarn), die wegschauen und sehr wenige, die zumindest versuchen, hinter die Kulissen des Verschweigens, der Angst zu schauen, sich also anzulegen mit dem beruflich respektablen Vater. Dazu gehören die hilflosen Versuche des Opfers, doch noch die ehrliche Zuwendung des Vaters, der Mutter zu gewinnen.
Dazu gehören aber auch Ressourcen, die das Kind hat und nutzt (Tiere, Natur, die eigene Intelligenz, eine Großmutter, organisierte Freizeitangebote), später dann Freundinnen und Helferinnen, eine über viele Jahre solidarische Anwältin. Ohne dies alles hätte Zora Sanné die spätere Befreiung, die Odyssee zwischen Behörden, Gerichtsprozessen, Kliniken, TherapeutInnen ungleich schwerer durchgestanden.
Dieses konsequent sachlich-nüchtern referierende Buch kann ungemein hilfreich sein für SozialpädagogInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen, die ja alle regelmäßig konfrontiert sind mit frühtraumatisierten Kindern und Jugendlichen (ob sie es wissen oder nicht)! Es kann dazu beitragen, HelferInnen auf die praktischen Schwierigkeiten der Unterstützung solcher Überlebenden vorzubereiten.
Es zeigt die typischerweise unangemessenen, nicht aufeinander abgestimmten Hilfsangebote (in Kinderheimen, der Psychiatrie, bei ambulanten TherapeutInnen), die fachliche Igoranz gegenüber deutlichen Hinweisen auf Gewalterfahrungen, zeigt unangemessene Interventionen auch in psychosomatischen Kliniken (selbst wenn es explizit um sexualisierte Gewalt geht), überforderte TherapeutInnen und Pflegekräfte selbst in Traumastationen, plötzlich die Therapie beendende ambulante TherapeutInnen. Wir lesen von der ärztlichen Nötigung zu einer "freiwilligen" Verlegung in eine geschlossene Station, von Untätigkeit und Verschleppung durch Krankenkasse und Versorgungsamt, von verwirrenden Nuancen von Beurteilungsformulierungen, (u.a. beim OEG-Verfahren), von Begründungen und Argumentationen, von der Gutachterodyssee. Ein besonderes Thema ist die qualvolle Situation mehrere Gerichtsverhandlungen, einschließlich des Terrors der Herkunftsfamilie (die zum Täter halten). Daß die Hausärztin in den gerichtlichen Aussagen alles vertuscht, was gegen den Täter (einen Bundeswehrangehörigen und Bürgermeister mit Bundesverdienstkreuz) spricht. Und der Fastfreispruch des sadistischen Vaters mithilfe von juristischen und administrativen Finessen. – In der nuancierten, auch juristisch nachvollziehbaren und quellenmäßig belegbaren (dies betonen die Autorinnen) Darstellung der bürokratischen und juristischen Entsetzlichkeiten ist dieses Zeugnis durch nichts zu ersetzen! (Ein Hinweis auf die Initiative Phönix – Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e.V. scheint mir angemessen.)
Die definitive Zerstörung von Überlebenden schwerster Psychotraumatisierung (zumal mit DIS) geschieht wohl sehr oft nicht durch die Täter, sondern durch die bürokratischen Querelen derjenigen Institutionen, deren Aufgabe Unterstützung und Hilfe ist. Heilewachsen erfordert für Überlebende mit DIS meist Kampf im Innensystem UND Kampf im System der Außenwelt!
En passant liefert der Bericht viele Hinweise über das Innenleben einer Traumaüberlebenden mit DIS, jedoch ohne Darstellung komplizierter und dramatischer Effekte. Typische soziale Probleme im Zusammenhang mit dem Vielesein werden vermittelt. Dies gelingt, weil die journalistische Autorin Zora Sannés Innenpersönlichkeiten hundertprozentig ernstnimmt. Durch lange Interviews werden deren unterschiedliche Blickwinkel auf lebensgeschichtliche Situationen nachvollziehbar.
In den Text eingeschobene Meinungsäußerungen von Täterintrojekten machen vorstellbar, wie diese sich in sozialen Situautonen immer wieder destabilisierend bemerkbar machen. Auch andere Innenanteile brngen die Außenpersönlichkeit im Alltag in Schwierigkeiten, solange noch keine entsprechende Innenkommunikation besteht. Für Außenmenschen sind derartige Innenkonflikte meist nicht zu erkennen; von daher kommt die Außenpersönlichkeit immer wieder in Erklärungsnotstand.
Die subtile Achtsamkeit der Autorin Beate Kneuse für das Vielesein Zora Sannés zeigt sich auch in der zweifellos seltenen Erkenntnis: "Erst mit der Zeit wurde mir bewußt, wie schwierig es für Euch ist, daß ich Euer gesamtes Leben kenne, während Ihr davon nur Bruchstücke präsent habt." (350)
Unzähligen anderen Überlebenden von schwersten Traumatisierungen, die (oft vergeblich) nach adäquater Unterstützung suchen, haben die beiden Autorinnen durch dieses beeindruckende Buch Stimme gegeben!