Fliß, Claudia / Riki Prins / Sylvia Schramm: Befreiung des Selbst. Therapiekonzepte zum Ausstieg aus organisierter Ritueller Gewalt
Claudia Fliß, Riki Prins, Sylvia Schramm: Befreiung des Selbst. Therapiekonzepte zum Ausstieg aus organisierter Ritueller Gewalt (Kröning 2018)
Opfer kontinuierlicher psychischer Traumatisierungen in der Kindheit können diese meist nur mithilfe von Dissoziation überstehen. Das meint, Aspekte des Schrecklichen werden dissoziiert (abgespalten) aus dem Bewußtsein. Bei besonders schwerwiegenden Gewalttaten wird das hiervon betroffene kindliche Bewußtsein insgesamt dissoziiert; ein anderes Bewußtsein, ein anderes Ich entsteht. Dieser äußerste neurologische Selbstheilungsversuch wird Dissoziative Identitätsstruktur genannt (DIS), früher und heute noch umgangssprachlich: Multiple Persönlichkeit. – Organisierte Rituelle Gewalt meint Tätergruppen, die Kinder seit dem frühesten Lebensalter mithilfe von Gewalt, Folter und lügenhaften Konditionierungen versklaven, um sie zur Befriedigung perverser sexueller Bedürfnisse, für Kinderprostitution, Kinderpornografie und zu satanistischen Ritualen zu mißbrauchen. Möglich wird dies nur dadurch, daß bestimmte Teilpersönlichkeiten (Anteile) eines dissoziativ gespaltenen Menschen im harmlosen Alltag präsent sind, ohne von der zu bestimmten Zeiten am eigenen Körper vollzogenen Gewalt etwas mitzubekommen. Im Laufe der Jahre entwickelt das "multiple System" des betroffenen Kindes – im eigenen Interesse – Bewußtseinsanteile für alle erforderlichen Aspekte des Lebens; zumeist wissen diese Teilpersönlichkeiten nichts voneinander. Durch Signale (Trigger, Auslöser) und andere Konditionierungsmethoden nutzen die Täter diese dissoziativen Aufspaltungen für ihre Zwecke. Wie bei uns allen strukturiert auch beim kindlichen Opfer die Realität der Lebenswirklichkeit das eigene (wenn auch dissoziierte) Bewußtsein. In mehr oder weniger umfassender Weise werden die Drohungen, Belehrungen, Strafen der Täter, wird die scheinbar unausweichliche Gewalt der Täter für die Opfer zum Lebensgesetz, zur theory of mind. Je länger die Gewalt dieser Täter anhält (oft auch noch im Erwachsenenalter), desto unvorstellbarer erscheint die Möglichkeit vertrauenswürdiger HelferInnen oder gar die Befreiung. – Jedoch sind auch diese gequälten, betrogenen, belogenen, konditionierten Persönlichkeitsanteile im Grunde innere Kinder und Jugendliche, die im Kern ihres Seins Befreiung ersehnen, ein gutes Leben, die verständnislos und trauernd, verzweifelt und wütend versuchen, ihre Lebenssituation zu verstehen. Dieses allgemeinmenschliche Potential wird zur Grundlage in der psychotraumatologisch orientierten Psychotherapie.
Organisierte Rituelle Gewalt im hier gemeinten Sinn (Kinderprostitution und –pornografie, Menschenhandel, satanistische, germanofaschistische und anderweitig ideologisierte Gruppen, teilweise wohl auch ausschließlich materiell/kommerziell interessierte Täter) geht jedoch oft noch über diese Formen von psychischer Konditionierung hinaus. Selbst der natürliche neurophysiologische Mechanismus der Dissoziation wird von bestimmten Tätern mißbraucht, um in den kindlichen Opfern Persönlichkeitsanteile für bestimmte Zwecke "herzustellen". (Dies ist mit dem Begriff Mind Control gemeint.) Solche Anteile haben keine eigenen Erfahrungen aus dem "einfachen Leben", es sind inverse Programme, die sich (fast) ausschließlich über die tätergewollten Aufgaben definieren. – Warum "fast"? Weil auch sie menschlich sind; menschliche Empfindungen und Bedürfnisse können in der therapeutischen Arbeit mit ihnen stimuliert, bestätigt und gestärkt werden.
Claudia Fliß, Riki Prins und Sylvia Schramm haben viele Jahre Erfahrung in der therapeutischen Begleitung von Überlebenden von organisierter Ritueller Gewalt. Dabei hat ihr neues Buch seinen Schwerpunkt bei den Überlebenden solcher "inverser Progammierung". Es geht also fast ausschließlich um die therapeutische Arbeit mit täterinduzierten Persönlichkeitsanteilen. Opfer derartiger Konditionierungen können sich kaum ohne therapeutische Unterstützung von den Tätern befreien; Therapie und Ausstiegshilfe muß also Hand in Hand gehen. (Das umfassende Thema der nichttherapeutischen Ausstiegshilfe konnte selbstverständlich nur in kurzen Abschnitten Thema des vorliegenden Buches werden.)
Auf das einführendes Kapitel zum Thema Selbstfürsorge folgt eine Übersicht zur ambulanten Psychotherapie mit Betroffenen von organisierter Ritueller Gewalt. Daran schließt sich eine Darstellung zur Lebensgeschichte Betroffener an. Deutlich wird schon hier der Blickwinkel des Buches auf Opfer von perfekt organisierten Tätergruppen, die nichts dem Zufall überlassen. Konditionierungen beginnen dort oftmals bereits vorgeburtlich und orientieren sich auf die spätere Integration des Kindes in eine seit Generationen bestehende Kultgruppe.
Es folgen Hinweise auf Anhaltspunkte, die auf Rituelle Gewalt hindeuten, auf das therapeutische Setting sowie Methoden der inversen Programmierung (Mind Control).
Sehr ausdifferenziert entwirft Claudia Fliß anschließend ein Modell zu den Systemstrukturen bei Betroffenen mit inversen Programmierungen. In seinem Mittelpunkt stehen die von der Autorin angenommenen Spaltungen nach den "Grundemotionen Liebe, Wut, Traurigkeit, Angst" sowie die Annahme von "Knotentraumata" (mit dazugehörigen Persönlichkeitsanteilen). Jedoch betont die Autorin in diesem Kaptel, daß es nicht vorrangig darauf ankommt, "solche Strukturen akribisch zu verstehen", sondern daß die Teilpersönlichkeiten "aus den täterbestimmten Positionen und Funktionen heraustreten und miteinander kommunizieren und kooperieren".
Die folgenden Erläuterungen zu Programmaufbau und Programmabläufen sowie zum "Weg der Therapie" sind unmittelbar nachvollziehbar (und gelten auch für Betroffene mit vorrangig genuinen, nicht täterhergestellten Anteilen).
Ein Kapitel zur Deprogrammierung (Schramm) bezieht sich wiederum deutlich auf Überlebende mit inversen Programmierungen und täterseitig durchstrukturierter Innenwelt.
Kapitel zum Thema Selbstwert, zur Bedeutung körperorientierter Therapiemethoden, zur Netzwerkarbeit (im Zusammenhang mit der Ausstiegshilfe), zur Arbeitssituation von TherapeutInnen und anderen UnterstützerInen schließen sich an. Den Schluß bilden persönliche Darstellungen der drei Autorinnen zur Bedeutung von Spiritualität für ihre Arbeit mit Überlebenden von Ritueller Gewalt.
Ein wenig stört mich die Neigung der Autorinnen zu apodiktischen, verallgemeinernden Erläuterungen. "Systeme anderer Betroffener können wieder völlig anders aufgebaut sein", wird zwar in der Einleitung betont. Dies gilt aber auch darüber hinaus, zum Beispiel hinsichtlich der Gewalt und Perfektion, mit der die Konditionierung der Tätergruppen abläuft. Nicht immer gibt es eine hierarchische Täterstruktur, in die alle oder auch nur einige Persönlichkeitsanteile eingebunden sind. Der Schwerpunkt des Täterinteresses kann unterschiedlich sein. Auch bei Ritueller Gewalt können genuin entstandene Anteile im Hintergrund existieren, die dem Tätereinfluß nie ausgesetzt waren. (Gelegentlich sind sie es, die Hilfe suchen.) Auch in Kinderanteilen gibt es möglicherweise Potential, das zur Befreiung eingesetzt werden kann. So wertvoll die vorliegende Arbeit für die therapeutische Arbeit mit dem worst case der Konditionierung durch Tätergruppen ist: ich hätte mir deutlichere Hinweise auf solche Ressourcen gewünscht. Jede der 375 Seiten dieses Buches ist unverzichtbar, gleichwohl vermittelt die Gewichtung meines Erachtens ein einseitiges Bild. Der große Bereich der therapeutischen Beziehung zu einzelnen Persönlichkeiten, das Thema der nachholenden Bindungserfahrung sowie die innersystemische Kommunikation (hier gerade zwischen Anteilen unterschiedlicher Genese) mag eine Selbstverständlichkeit sein für jeden, der oder die mit Multis arbeitet; gerade angesichts der teuflischen Raffinesse solcher Tätergruppen ist es umso wichtiger, die allgemeinmenschlichen Ressourcen (deren fortwirkende Relevanz die Täter wohl eher ignorieren) zu nutzen, wie auch immer sie sich zeigen. (Einzelne Hinweise hierzu lassen sich allerdings an manchen Stellen finden.)
Das Buch sammelt eine überwältigende Fülle von Hinweisen zur psychotherapeutischen Arbeit mit Überlebenden von organisierter Ritueller Gewalt und Mind Control. Die prägnante, flüssige und allzeit praxisorientierte Sprache erleichtert das Verarbeiten. Durch die überlegte Gliederung eignet sich die Arbeit zum späteren Nachlesen einzelner Themen. Das Buch wird zweifellos für viele Jahre ein unverzichtbarer Ratgeber bleiben.