STEELE, Kathy / Suzette BOON / Onno van der HART: Die Behandlung traumabasierter Dissoziation. Eine praxisorientierte, integrative Vorgehensweise
(Lichtenau 2017)
Den AutorInnen hatten seinerzeit (zusammen mit Ellert Nijenhuis) die Konzeption der „Dissoziation der Persönlichkeit“ (zunächst: „Strukturelle Dissoziation“) entwickelt, ein theoretisch und neurobiologisch fundiertes Modell der Ausdifferenzierung traumabasierter Dissoziation, die vorrangig im Zusammenhang mit DIS und DDNOS praxisrelevant wurde. Besonderen Stellenwert hatte die Unterscheidung in ANP (anscheinend Normale Persönlichkeiten) und EP (Emotionale Persönlichkeit) sowie das grundlegende Symptom der Vermeidung, also des phobischen Verhaltens. Die Existenz von DIS („Multiple Persönlichkeit“) wurde durch diese Konzeption erstmalig neurophysiologisch bestätigt.
Das vorliegende Werk versteht sich offenkundig als Praxisbuch zu dieser Konzeption, bezieht sich jedoch nur sehr indirekt darauf – eine erste Irritation. Die zweite liegt in der Wahl des Titels. Traumabasierte Dissoziation, das sind ja nicht nur dissoziative Anteile (Teilpersönlichkeiten, Alters, Ego States), sondern auch Depersonalisation, Derealisation sowie die im ICD 10 unter F.44 genannten symptomatischen Phänomene. In dem vorliegenden 600-Seiten-Wälzer werden sie grade mal namentlich erwähnt. Es geht in diesem Buch tatsächlich ausschließlich um Traumaüberlebende mit DIS und DDNOS (im Buch aparterweise ANBDS genannt). Aber selbst in diesem diagnostischen Spektrum fehlt Entscheidendes. Diskutiert werden durchgängig nur innerhalb traumatisierender Sozialisationsbedingungen naturwüchsig entstandene dissoziative Anteile; ignoriert wird der Bereich der von Tätern (der organisierten Rituellen Gewalt) zielorientiert konditionierten Anteile (Stichwort Mind Control, inverse Programmierung) – womit auch eine über das ursprüngliche Modell der Strukturellen Dissoziation hinausgehende weitere Ausdifferenzierung von Anteilen verbunden sein kann. Auch der therapeutische Umgang bei noch bestehender Tätergewalt sollte in einer Gesamtdarstellung wie dieser nicht nur schematisch erwähnt werden, da diese Situation erhebliche Auswirkungen hat auf die thearpeutische Arbeit mit dissoziativen Anteilen.
Im Hinblick auf die therapeutische Arbeit mit genuinen dissoziativen Anteilen (DIS oder DDNOS) ist das Werk von überwältigender Ausdifferenziertheit. Offenkundig haben die AutorInnen sich größtmögliche Vollständigkeit vorgenommen und wohl auch nahezu erreicht. Im Teil I geht es um die therapeutische Beziehung, im Teil II um Assessment, Fallkonzept und Behandlungsplanung, im Teil III um Arbeit mit dissoziativen Anteilen, Widerstand als phobisches Vermeiden, Abhängigkeit, Arbeit mit Kinder-Anteilen, Umgang mit Scham, Arbeit mit wütenden und feindseligen Anteilen, mit täterimitierenden Anteilen (Täterintrojekten) und spezielle Probleme. Teil IV ist der Behandlung traumatischer Erinnerungen gewidmet, Teil V der Integration von Anteilen. In Anhängen finden sich mehrere diagnostische Instrumente (Fragebögen).
Trotz des vielleicht erstmal abschreckenden Umfangs ist das Buch sehr gut lesbar (woran vermutlich das bewährte ÜbersetzerInnenteam Kierdorf & Höhr Anteil haben). Für LeserInnen, die bereits Erfahrung haben in der Arbeit mit diesem Klientel, wird manches selbstverständlich sein. Entsprechende zeitliche Ressourcen vorausgesetzt, könnte das Buch eine Art vertiefender Lehrgang in die entsprechende therapeutische Praxis sein.
Gestört hat mich die durchgängig männliche Sprachform („Patienten“) in diesem Bereich, in dem die allermeisten KlientInnen weiblichen Geschlechts sind. Gestört hat mich eine allzu pauschale Orientierung an „dem Patienten“, manchmal auch „dem Patienten als ganzer Person“ im Gegensatz zu „seinen Anteilen“. Die Behauptung, „ein bestimmter Anteil wirkt aktiv unabhängig vom Bewußtsein des Patienten“ (Seite 240) ist sinnlos. Niemand dürfte besser wissen als die drei AutorInnen, daß eine Alltagspersönlichkeit, deren symptomatische Beschwerden sie in die Therapie treiben, oft eine Funktionsträgerin ist, weitestgehend amnestisch für alles, was mit der Virulenz des Vieleseins und den Traumainhalten zu tun hat und insofern zunächst keine besonders geeignete Therapiepartnerin. Zumal eine solche Hierarchisierung der proklamierten „systemischen Perspektive“ widerspricht – jedenfalls nach meinem Verständnis.
Gegenüber der unglaublichen Fülle von kristallklar formulierten und praktisch relevanten Hinweisen auf 600 Seiten sind diese Stolperstellen Petitessen; andere LeserInnen dürfte anderes irritieren. – Als Lehrbuch für die psychotraumatologisch orientierte Therapie von Traumaüberlebenden mit DIS und DDNOS (jedoch ohne Mind Control bzw. inverser Programmierung) dürfte das Gemeinschaftswerk von Kathy Steele, Suzette Boon und Onno van der Hart für Jahre das Standardwerk bleiben.