REUTER, Elisabeth: Merle ohne Mund
Elisabeth Reuter: Merle ohne Mund (München 1996)
und:
Elisabeth Reuter: Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der 'systemischen Psychotherapie' nach Bert Hellinger (Berlin 2005)
"Merle ohne Mund" - Bereits auf den ersten Seiten wird deutlich, daß es in diesem Roman um Inzest eines Vaters an seiner kindlichen Tochter geht. Nervenkitzelnde Offenbarungen werden nicht geboten, weshalb bestimmte LeserInnen den kleinen Roman möglicherweise langweilig finden werden. Sein Wert liegt woanders. Behutsam, zart werden wir an das Seelenleben eines kindlichen Opfers herangeführt. Verwirrung, Scham. Schuld, Schmerzen, Alpträume, Wortlosigkeit, seltsame Phantasien und ungreifbare Wut, Sehnsucht nach den Momenten, in denen der Vater (ein Lehrer) als zugewandt und zärtlich erfahren wurde, Sehnsucht nach einer Mutter, die hinschaut, die schützt… all das wird nachvollziehbar. Wir verstehen: solche kindlichen Opfer werden sich niemandem hilfesuchend offenbaren, - sind sie doch selbst viel zu unsicher über gut und böse, denn jedes Kind ist überzeugt, daß es selbst schuld ist, wenn die Eltern es böse behandeln.
Dieses Buch von Elisabeth Reuter ist näher dran an dem Kind, als ähnliche (meist autobiografische) Bücher, die auf die bösen Taten selbst fokussieren. Die kleine Merle bleibt ein Kind mit kindlichen Empfindungen jenseits der traumatischen Realität, die es seelisch überleben kann nur, indem eine zweite Merle entsteht: ein dissoziativer Persönlichkeitsanteil.
Deutlich wird das besondere Gewicht der Wut, die niemals gelebt werden durfte und die auch nach dem Tod des Vater-Täters (als Merle 13 ist) nicht einfach verschwindet.
Aber das Buch vermittelt auch, wie Hilfe möglich ist. Wenn jemand hinschaut, aufmerksam und einfühlsam ist, die fast sprachlosen Botschaften des Opfers ernstnimmt. Besser als jene Nachbarin auf Merle eingeht, ist Ersthilfe nicht vorstellbar; und als dann der Weg zu einer spezialisierten Beratungsstelle gefunden war, gab es tatsächlich Hoffnung für die kleine Merle. Daß und auf welche Weise sogar behutsames Verständnis für die Mutter möglich wurde, ist für mich etwas fragwürdig; so einfach sollten solche Mütter (die ihren Mann nicht verlieren wollten und deshalb ihr Ahnen oder Wissen verdrängen) nicht davonkommen.
Eines der wahrhaftigsten Bücher zu diesem Thema; es sollte Pflichtlektüre sein in Jugendämtern, Beratungsstellen und bei anderen Anlaufstellen, die mit Kindern zu tun haben.
Das Buch "Merle ohne Mund" hat eine eigenartige Geschichte. Elisabeth Reuter, die Autorin, outete sich 1995 in einem Dokumentarfilm von Felix Kuballa ("Gesucht wird … der Riß im Kopf") als Überlebende von seuxellem Mißbrauch durch den Vater, die aufgrund der Traumatisierungen eine Dissoziative Identitätsstruktur (DIS) entwickelt habe. Im Jahr drauf erschien "Mele ohne Mund". – Einige Jahre später kam Elisabeth Reuter zu der Überzeugung, die Diagnose DIS ebenso wie der traumatische Inzest durch den Vater seien nicht Realität, sondern ihr durch ihren Therapeuten "eingepflanzt worden". Nach Lektüre eines amerikanischen Buches über "false memories" seien die Persönlichkeitsanteile über Nacht verschwunden (zitiert nach Psychosoziale Umschau 1/2004). Reuter strengte eine Schadensersatzklage gegen den Therapeuten an. Im Jahr 2003 produzierte Felix Kuballa einen weiteren Film mit Frau Reuter ("Multiple Persönlichkeiten – Wahn der Therapeuten?"), in dem er jetzt anhand einiger Fälle die Existenz "multipler Persönlichkeiten" bestreitet. 2005 verlor Elisabeth Reuter den Prozeß gegen den Therapeuten.
Im selben Jahr veröffentlichte Elisabeth Reuter das Buch "Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der 'systemischen Psychotherapie' nach Bert Helllinger" (Berlin 2005).
Darin berichtet sie von einer allerdings entsetzlichen Nichttherapie eines (anderen!) psychosenahe oder psychopathischen Therapeuten, innerhalb derer der (unseriöse und gefährliche) Ansatz Hellingers jedoch gar keinen großen Stellenwert eingenommen zu haben schien. (Dennoch werden Hellingers Vorstellungen von der Autorin ausführlich referiert. Den Abschluß dieser Veröffentlichung bildet ein ausführliches Nachwort Klaus Webers, der seinerseits eine kritische Monografie zu Hellinger geschrieben hat.) – Cui bono?
Es ging bei dieser unerträglich inkompetenten und zweifellos retraumatisierenden Pseudo-Therapie um die traumatische Kindheit der Autorin. Bei der Lektüre finden sich etliche Korrelationen zu "Merle ohne Mund", jedoch unterscheiden sich die jeweiligen Interpretationen voneinander. Sexualisierte Gewalt durch den Vater habe es nicht gegeben, multipel sei sie nicht. Stellungnahmen oder auch nur Hinweise auf die Vorgeschichte (zwei Filme, Prozeß, Merle-Buch) gibt es in diesem Buch nicht.
Elisabeth Reuter, die 2017 starb, trat in der Folgezeit als Malerin und Autorin in die Öffentlichkeit. Auf ihrer eigenen Website sind keine Hinweise auf diesen Konflikt oder das Buch "Merle ohne Mund" zu finden, auf der Wikipedia-Seite für Felix Kuballa fehlt unter seinen vielen Dokumentarfilmen derjenige von 1999; ich habe ihn dazugeschrieben. (Der zweite Film stand dagegen auf der Liste.)
Dritter Akt. Auf Selbsthilfeportalen von Traumaüberlebenden mit DIS wurden im Jahr 2003 Mails von Nobby publiziert, die sich selbst als Persönlichkeitsanteil von Elisabeth Reuter vorstellte und dem zweiten Kuballafilm mit deutlich verzweifelten Worten widersprach. Eine der Mails enthält ein "PS: Hallo Mama – wenn Du das liest – liebste Grüße von Deiner Tochter." Die Mails mußten von den Portalen entfernt werden, da Elisabeth Reuter mit juristischen Schritten drohte.