SEIDLER, Günter H.: Psychotraumatologie. Das Lehrbuch
Günter H. Seidler: Psychotraumatologie. Das Lehrbuch
(Stuttgart 2013)
"Lehrbuch"? Das verbinden wir gern mit staubtrocken, pedantisch, schlecht geschrieben, insgesamt: unerfreuliche Pflichtlektüre. Das vorliegende Buch des Facharztes, Psychoanalytikers und Psychotraumatologen Günter H. Seidler ist das genaue Gegenteil. Seine "ökopathogenetische" Fragestellung öffnet den Horizont, seine psychoanalytisch und medizinisch geschulte Aufmerksamkeit bildet ein unaufdringliches und hilfreiches Strukturelement der Darstellung. So könnte dieses Lehrbuch erheblich dazu beitragen, das Phänomen Psychotrauma gerade ÄrztInnen näherzubringen. Nicht zuletzt trägt es bei zu dem so wichtigen Brückenschlag zwischen Psychoanalyse und Psychotraumatologie.
Ein Lehrbuch Psychotraumatologie hat nicht die Aufgabe, in einzelne traumatherapeutische Methoden einzuführen. Der Autor erleichtert jedoch durch seine intellektuell klare, prägnante Darstellung grundlegender Zusammenhänge (auch anhand von Forschungsliteratur) das praxisorientierte Weiterlernen. Besonders vertrauensbildend wirken (zumindest für mich) jene Passagen, in denen Günter Seidler uns an eigenen Erfahrungen und Schlußfolgerungen teilhaben läßt. Bei aller fachwissenschaftlichen Strenge wird dort die mitmenschliche Achtsamkeit für die Situation schwertraumatisierter Menschen sehr deutlich. (Keine Nebensache, daß der Autor konsequent weibliche und männliche Bezeichnungen für Menschengruppen verwendet!)
Auf einige von mir durchaus subjektiv ausgewählte Themen und Überlegungen möchte ich hier besonders hinweisen:
1) "Traumafolgestörungen im engeren Sinne sind keine Neurosen; ihre Symptome gehen nicht auf symbolisierte oder symbolisierbare 'innere Konflikte' zurück. Zu ihrem Verständnis bedarf es anderer Modelle. (…) Die (…) Traumafolgestörungen können [jedoch] ihrerseits wieder neurotisch, also konflikthaft verarbeitet werden." (S. 44) – Den grundlegenden Unterschied zur konventionellen Psychotherapie betont der Autor später aus anderem Blickwinkel: "Eine störungsspezifische Psychotherapie ist für die Behandlung bestimmter Störungen spezifisch. Im Unterschied dazu ist Traumatherapie ätiologiespezifisch. (…) Die Patienten und Patientinnen haben also Auslöschungserfahrungen hinter sich. In welchen Krankheitsbildern sich das niedergeschlagen hat (…), ist zunächst einmal zweitrangig." (S.199)
2) "Es ist zu bedauern, dass in der Forschungsliteratur [die epidemiologische Frage] nahezu ausschließlich auf die Möglichkeit einer nachfolgenden PTBS beschränkt bleibt und kaum nach dem Auftreten von Traumafolgestörungen im weiteren Sinne gefragt wird. Insofern wird die pathogene Wirkung von Gewalt systematisch unterschätzt (…)." (S. 56/7)
3) Gut vermittelt wird auch das nicht unkomplizierte Kapitel "Psychoforme, somatoforme und persönlichkeitsstrukturelle Erscheinungsformen dissoziativer Traumafolgestörungen".
4) Ein wichtiger Hinweis über den (sehr häufigen) Zusammenhang zwischen Sucht, Depression, Psychose mit Trauma. Allerdings überzeugen mich die Sätze zum Thema Psychose nicht ganz, nachdem an anderen Stellen des Buches Psychose kurzerhand als Kontraindikation zur Traumatherapie bezeichnet wird. Selbstverständlich gilt das für die akute Psychose, aber wenn jemand mit sehr wahrscheinlichem Entwicklungstrauma dann im frühen Erwachsenenalter eine psychotische Episode erleidet und hinterher von TraumatherapeutInnen mit pauschalem Hinweis auf die Schizophreniediagnose abgelehnt wird, kann es das auch nicht sein!
5) Ein wichtiges, deutliches Kapitel zu "Trauma und Persönlichkeitsstörungen". Der Autor gibt zu bedenken, daß die sogenannten Persönlichkeitsstörungen ihre Grundlage im Versuch entwicklungstraumatisierter Menschen haben können, die reaktiv versuchen, "alles, was irgendwie kontrollierbar ist, zu kontrollieren und Unberechenbarkeiten zu vermeiden." (S.150) Ein längerer Abschnitt des Kapitels beschäftigt sich mit der "histrionischen Persönlichkeitsstörung", früher als "Hysterie" bezeichnet. (Siehe zum Brückenschlag zwischen Trauma und Persönlichkeitstörungen auch das gleichnamige Buch von Wolfgang Wöller.)
6) Im Kapitel "Misshandlung, Missbrauch und Inzest" kritisiert Seidler die "Übergeneralisierung des A‑Kriteríums der PTBS". Dort geht es um "tatsächlichen oder drohenden Tod" sowie die "Gefahr der körperlichen Unversehrtheit". Ignoriert wird die Traumatisierung durch seelischen Missbrauch. Der Autor schlägt demgegenüber vor, "Ereignisse als traumatische zu verstehen, in denen Menschen zur Sache gemacht werden, ihnen ihre Daseinsberechtigung implizit abgesprochen wird und sie existenziell ausgelöscht werden". (S. 182f.)
7) Regression hat auch in der Traumatherapie grundlegende Bedeutung, ist jedoch anders strukturiert: "Es gibt (…) verwundete Persönlichkeitsanteile, die in einem sonst durchaus arbeitsfähigen Erwachsenen schlummern. (…) Dieser verwundete Anteil ist allerdings nicht wirklich 'regrediert' – er ist auf dem Niveau seiner Verwundung hängen geblieben, und es wäre fatal, wenn die gesamte Persönlichkeit des Patienten auf dieses Funktionsniveau geraten würde. Angestrebt wird deshalb, dass sich der handlungsfähige Teil im Patienten dieses verwundeten Anteils annehmen kann, in Begleitung durch den Therapeuten." (S.208)
Bei umfassender Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur nimmt die Relevanz solcher "hängengebliebender" Anteile zu; bei der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) kann der handlungs- und alltagsorientierte Teil zum engumgrenzten Funktionsträger geschrumpft sein. (Anm. MvL)
8) Innerhalb der (beschränkten) Methodendiskussion gibt Günter Seidler einer Warnung Frank Neuners vor einer zu ausgedehnten Stabilisierungsphase einer Traumatherapie Raum: "In der Ankündigung einer ausführlichen Stabilisierungsphase steckt auch die direkte oder indirekte Botschaft an den Patienten, dass es gefährlich sei, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen, beziehungsweise dass der Patient zum gegenwärtigen Zeitpunkt seine eigenen Erinnerungen nicht verkraften könne. Stattdessen wird der Patient häufig angeleitet, ausgefeilte Vermeidungstechniken einzuüben. (…) Dabei entsteht durch die anhaltende Verweigerung, über das Trauma zu reden, die Gefahr, auch von therapeutischer Seite in die 'Verschwörung des Schweigens' einzutreten." (Neuner 2008, S. 116) (Seidler S. 218)
9) Der Freud-Schüler Sándor Ferenczi wurde in seinen letzten Lebensjahren zum wichtigen Protagonisten der Psychotraumatologie. Das vorliegende Lehrbuch erwähnt ihn zutreffend, jedoch leider nur kurz, mit Hinweis auf einen allerdings sprichwörtlich gewordenen Vortrag: "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft". (S.224)
10) Innerhalb des ausführlichen Kapitels zur "Ego-state-Therapie" betont der Autor in begrüßenswerter Deutlichkeit: "Therapieformen, die kein Konzept zum Umgang mit dissoziativ 'zerbrochenen' Erinnerungen haben, wie etwa die klassische Psychoanalyse oder eine nicht modifizierte tiefenpsychologische Therapie, sind für die Behandlung Traumatisierter ungeeignet." (S.233)
11) Begrüßenswert auch der Hinweis auf Möglichkeiten internetgestützter Therapieangebote (online-Therapie). (Siehe hierzu die Dokumentationen von Rachel [u.a.] und Merle Müller, bei https://dissoziation-und-trauma.de/unsere-buecher – MvL)
12) Im Kapitel Pharmakotherapie verweist der Autor auf Studien, die keine Wirksamkeit von Benzodiazepinen bei PTBS belegen. Bei Frühintervention scheinen sie sogar für die Zunahme von PTBS (und Depressionen) verantwortlich zu sein. Leider wird das hohe Suchtpotential nicht erwähnt. (S.238/9)
13) Traumatherapie im stationären Setting: Hier wird auf die Notwendigkeit der Unterbringung in Einzelzimmern hingewiesen; zumindest in Traumastationen sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein, ist es jedoch nicht (Anm. MvL).
14) Am Schluß des Buches steht eine Mahnung des Autors: "Der Kreativitäts- und Bedeutungsverlust der Psychoanalyse begann mit deren Verschulung, ihrer Erhebung zum Mainstream der Psychotherapie und dem Ausbau ihres Machtimperiums – auch über die Fachgesellschaften. Zu lernen war: Vor dem Niedergang eines Paradimas kommen dessen Verschulung und Dogmatisierung." (S. 250)
Ein schönes, gutes, wertvolles Lehrbuch! – Eine Neuauflage sollte allerdings um das Thema Organisierte rituelle Gewalt ergänzt werden.