"Elternschonung" in der Traumatherapie ??
Dr. Anke Diehlmann, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Traumatherapeutin, sandte uns einen Erfahrungsbericht zur Veröffentlichung im Informationsportal DISSOZIATION UND TRAUMA. Leider muß ich die grundlegenden Beobachtungen aus meiner Erfahrung bestätigen: allzuviele Traumaüberlebende berichten, daß Psychiater, PsychotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen (von Angehörigen ganz zu schweigen!) mit "ja, aber.." um Verständnis für Täter-Eltern geworben haben. Nur war ich davon ausgegangen, unter TraumatherapeutInnen könne so etwas nicht mehr vorkommen..
Als Ärztin für Allgemeinmedizin werde ich mit allen möglichen medizinischen, psychischen und alltäglichen Problemen meiner Patientinnen und Patienten konfrontiert. Es ist gerade das breite Spektrum dieses Berufes und die verwobenen Beziehungen der Menschen untereinander mit ihren innerfamiliären Zusammenhängen, die mich schon immer fasziniert haben.
Für mich ist es kein Wunder, dass der Ehemann hartnäckige Rückenschmerzen bekommt, wenn seine Frau seit Monaten eine heimliche Außenbeziehung unterhält, von der er keine Ahnung hat. Sein Körper aber spürt die Unstimmigkeit und meldet sich. Er kann kaum mehr aufrecht gehen; seine Haltungsschwäche wird immer stärker, die damals in jungen Jahren begann, als seine Mutter ihn mit Liebesentzug bestrafte, weil sie fand, er wäre zu alt für Stockhiebe geworden. Oder die Frau mit Migräne, deren Mann schon wieder zu viel Alkohol getrunken hat, trotz allen Versprechens … Diese Ehe ist ein Abbild der Ehe ihrer Eltern. Sie hatte schon immer Mitleid mit ihrer Mutter gehabt, litt mir ihr und ihren jüngeren Geschwistern unter den Ausbrüchen ihres alkoholisierten Vaters. Das Mitleid der größten Tochter half der Familie damals zu überleben, verhinderte aber gleichzeitig eine Abgrenzung von der Mutter, die ihrer Tochter dies alles zumutete, an Statt ihre Probleme als erwachsenen Frau zu lösen und ihrer Tochter eine echte Mutter zu sein. Das Mädchen bürdete sich wie selbstverständlich alle Einkäufe, Hausarbeit und die Versorgung der jüngeren Geschwister auf. Sie merkte nicht, wie sehr sie sich mit der Mutter identifizierte, die sie doch nur ausnutzte, und weshalb sie sich in einen jungen, aber sanftmütigen Alkoholiker verliebte … bis sie sich selbst in der Rolle der Co-Alkoholikerin wiederfindet – mit Migräne.
In meiner ärztlichen Sprechstunde erlebe ich zahlreiche Beispiele, wie auch erwachsene Kinder ihre Eltern weiter schonen und an Störungen und Krankheiten leiden. In meinen Büchern habe ich einige geeignete Fälle beschrieben. Bei genauerem Hinsehen sind die Störungen nur eine logische Folge ihrer Kindheitserfahrungen.
Deshalb machte ich mich daran, diese Dynamik in einzelnen Fällen zu erforschen und schaute in der wissenschaftlichen Literatur nach, ob ich etwas hierzu fände. Dabei stieß ich lediglich auf die Werke von Alice Miller, die mit wirklicher Konsequenz diese Zusammenhänge darlegt.
Die gängige Lehrmeinung beschreibt heute sehr deutlich den Zusammenhang zwischen schwieriger Kindheit und späteren psychischen Problemen und körperlichen Erkrankungen. Eine echte Kindheitsaufarbeitung als Therapie wird allerding leider nur sehr selten angeboten. An Statt sich konsequent bis zum Schluss empathisch an die Seite des früheren Kindes zu stellen, wird in Kollegenkreisen, beispielsweise auf der ESTD-Tagung dieses Jahres und auf allen anderen Kongressen, an denen ich bisher teilnahm, propagiert, als Therapeut wohl Empathie zu zeigen, aber letztlich die Neutralität zu wahren und dem Patienten zu zeigen, wie er seine Eltern verstehen lernt und deren Situation hinterfragen kann. Ein Verzeihen wird mittlerweile nicht mehr so sehr gefordert, wohl aber die Ermutigung, dem Patienten das Verständnis für seine misshandelnden Eltern näher zu bringen. Die Opferrolle der Eltern wird in den Blickwinkel gerückt. Sie wären vielleicht überfordert gewesen, krank, verletzt, in finanziellen Nöten u.v.m. Diese Sichtweise solle den eigenen Schmerz vom Patienten nehmen und sein Leiden relativieren. Dass die Eltern die Erwachsenen waren, die ihre Probleme durchaus anders hätten angehen können als mit dem Misshandeln ihrer Kinder, wird nicht angesprochen. Vielmehr solle der Patient lernen, dass seine Eltern auch bedauernswerte Menschen waren.
Nichts braucht der Patient weniger als das. Schon als Kind glaubte er, seine Eltern hätten das Recht, wenn sie ihn übergingen, missachteten oder misshandelten. Sein Leid wurde nicht gesehen. Niemand nahm sein Befinden wahr. Auch er selbst nicht. Er lernte seine Schmerzen zu unterdrücken und authentische, echte Gefühle der Wut oder des Zorns gar nicht aufkommen zu lassen. Er lernte auch, seinen Eltern vieles nachzusehen – und wurde krank. Sobald ein beistehender, helfender Zeuge ihn verstehen, vor elterlichen Übergriffen beschützen konnte und seine Gefühlslage spiegelte, war er vor den krankmachenden Folgen der Misshandlungen gefeit. Das heißt, schon als Kind hätte er jemanden gebraucht, der ihn vor seinen Eltern in Schutz nimmt. Umso mehr braucht er es im Nachhinein als Erwachsener in seiner Therapie! Dabei geht es um die einfache, aber schmerzhafte Wahrheit, dass die Eltern die Täter waren. Diese Tatsache gilt es ohne jede Beschönigung zuzulassen. Natürlich ist es sehr schmerzlich zu erkennen, wie wenig elterliche Liebe – allen Beteuerungen, Wünschen und Illusionen zum Trotz – bei den früheren Missachtungen vorhanden war; und im Gegenteil, endlich zu begreifen, dass bei den Eltern in diesen Momenten überhaupt keine Liebe vorhanden war und sie ihr Kind emotional allein ließen.
Wieso können so viele Therapeuten in den Sitzungen die echten Gefühle sowohl der früheren Eltern als auch der Kinder nicht akzeptieren? Nun ja, die heutigen Therapeuten waren allesamt einmal kleine Kinder, die gerne an die Liebe ihrer Eltern glaubten. Wie viele hatten selbst grausame Eltern? Wie viele wurden vernachlässigt? Wie viele nehmen ihre eigenen Eltern in Schutz? Wahrscheinlich glaubt der ein oder die andere selbst noch an die Illusion der elterlichen Liebe auch bei Übergriffen und hat Angst vor der Strafe, die auch ihm früher gedroht hätte, hätte er die wahren Gefühle und Motive seiner Eltern durchschaut.
So kommt es, dass auch heutzutage noch der ein oder andere Therapeut nach einem anfänglichen Klarstellen der Ursache zwischen früherer Kindesmisshandlung und Krankheit eine deutliche Kehrtwende macht in Richtung Schonung der Eltern-Täter und vielleicht sogar mir Beschuldigen des Kranken. Es folgen jahrelange Therapien mit unzähligen Sitzungen. Meist ergibt sich durch diese Art der Zuwendung wohl eine Linderung von Symptomen, aber keine Heilung.
Auf den Kongressen sind diese Therapeuten stolz, dass sie die Geduld aufbringen, ehemals misshandelte Kinder jahrelang zu behandeln … Schwere Misshandlungen gelten übrigens als unheilbar.
Dabei brauchen die Patienten nur dringend einen Therapeuten, der ihnen hilft, die frühere unterdrückte Wut zu spüren, die Eltern ungeschönt so zu sehen, wie sie waren, ihre Taten am Kind anzuprangern und zu verurteilen und sie endlich von dem Podest zu holen, auf dem sie seit jeher stehen. Für die erwachsenen Patienten ist es nicht so wichtig, weshalb die Eltern gewalttätig, gewaltbereit, gefühlskalt usw. gegenüber ihrem Kind geworden waren, sondern dass sie derartig handelten und empfanden und dass ihr Kind davon krank wurde. Die krankmachende, emotionale Realität des ausgelieferten Kindes ändert sich nicht im Nachhinein durch ein Verstehen des Werdegangs. Sobald sich die Gefühle des ehemals traktierten Kindes mitteilen dürfen, der Patient sich selbst wirklich sehen und verstehen kann und seinen Ausweg in die Krankheit als natürliche Folge begreifen kann, ist echte Heilung möglich. Dafür braucht es dann keine langen Monate oder gar Jahre.*
Das Schlagen kleiner Kinder, Demütigungen, Bevormundung und würdeloser Umgang mit den Jüngsten führen zu vielerlei Erkrankungen; das Schonen der Eltern und das Verleugnen des frühen Leids indes erhalten diese Krankheiten. Eine Heilung ist auf diese Art nicht möglich, auch mit noch so vielen Therapiesitzungen nicht. Nicht das Mitleid und das Verstehen der Eltern führen zur Heilung, sondern das Verständnis mit dem damaligen kleinen, geschundenen Kind und dessen übergangenen Rechten. Die Schwierigkeit einer Heilung liegt nicht nur an der Schwere der früheren Misshandlungen, sondern v.a. an dem Ausmaß, wie sehr die Eltern auch später in Schutz genommen werden und das frühere Leiden noch heute verleugnet wird. Ich hoffe, immer mehr Therapeuten können ihre Neutralität aufgeben und sich empathisch dem Kranken zuwenden und ihn von seinen psychischen, psychiatrischen Krankheiten, seinen Rückenschmerzen und seiner Migräne befreien.
21.August 2012
Dr. med. Anke Diehlmann
Fachärztin für Allgemeinmedizin
www.dr-diehlmann.de
* Aufgrund der strukturellen Veränderungen, die nach neurophysiologischen und psychotraumatologischen Forschungen Folge schwerer Traumatisierungen in der frühen Kindheit sind, sehe ich zumindest bei solchen Betroffenen derzeit keinen Anlaß zur Hoffnung auf eine drastische Verkürzung des Heilungsweges. - Eine Orientierung an der subjektiven Befindlichkeit von Angehörigen, die Täter geworden sind, macht jedoch meines Erachtens jeden Heilungsprozeß unmöglich! (MvL)