Ärztliche Zwangsmaßnahmen - Kommentar zum neuen Gesetz
Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Volkmar Aderhold schreibt in seinem kritischen Kommentar zum neuen "Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme" (Titel: "Historische Chance versäumt!", in: SOZIALE PSYCHIATRIE 02/2013, Seite 42-44):
"(...)
Das neue Gesetz nimmt Patientenschädiung in Kauf und wird dafür mitverantwortlich sein. - Schädigungen befürchten wir 1. durch Retraumatisierung vor dem Hintergrund der persönlichen Biografie und 2. durch unangemessene, oftmals viel zu hoch dosierte und damit das Gehirn schädigende Pharmakotherapie.
Zu 1.: Nicht selten kommt es in der Fixierung zu erheblicher Gegenwehr und Hilfeschreien; manche (vor allem akut paranoide Patienten) wähnen sich zum Beispiel kurz vor einer Hinrichtung, erleben im fixierten Zustand die Injektion eines Beruhigungsmittels oder Neuroleptikums als Todesspritze. Die wenigsten Patienten werden nach Anwendung von Zwang über ihr Erleben oder ihre Gefühle befragt, obwohl die psychischen Reaktionen nach diesen Erfahrungen oft schwerwiegend sind und nicht selten das Ausmaß einer schweren, langfristig anhaltenden posttraumatischen Störung annehmen.
Viele dieser Patienten, d.h. über 50 Prozent, waren in ihrem Leben zuvor Opfer einer interpersonellen Traumatisierung wie physischer Misshandlung und sexueller Missbrauch. Auch dieses ging oft von Personen aus, denen sie zunächst als Personen des Alltagslebens getraut haben. Insofern ist eine Retraumatisierung durch psychiatisches Personal besonders fatal: Die Betroffenen wenden sich ab vom psychiatrischen System. Sie versuchen, den Kontakt zur Psychiatrie zu vermeiden, was nur selten mit Erfolg gelingt. Erneute Zwangsmaßnahmen und 'Drehtüreffekte' sind die Folge.
Andere gehen nach solch entwürdigender Erfahrung in eine innere Emigration, geben den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben auf und lassen sich psychisch und sozial fallen. Zwangsanwendung bewirkt so oft das Gegenteil von dem, was therapeutisch sinnvoll und ethisch geboten wäre. Dieses Misslingen bildet sich in der wachsenden Anordnung von gesetzlichen Betreuungen ab.
Zwang setzt weiteren Zwang in Gang - zu selten kann dieser Teufelskreis wieder durchbrochen werden.
Zu 2.: (...)"
Volkmar Aderhold bezieht sich hier in erster Line auf PatientInnen in psychotischen Phasen, seine kritischen Hinweise gelten jedoch auch für Überlebende von Psychotraumatisierungen ohne psychotische Erfahrungen.
Dr. Aderholds Text wurde ursprünglich per Mail an die Abgeordneten des Deutschen Bbundestags gesandt (am 9.12.20012); das Gesetz wurde in der vorliegenden Form am 17.2.2013 verabschiedet. (Die Hervorhebung stammt von D+T.)