Offener Brief an die Verteidigerin von Beate Zschäpe
OFFENER BRIEF
Sehr geehrte Frau Sturm,
zufällig bin ich im Netz über die Berichterstattung zu Frau Zschäpe und in dem Zusammenhang zu den Anfeindungen gegen Sie gestoßen. Ich möchte Ihnen gerne meine Hochachtung vermitteln, daß Sie und Ihre Kollegen sich diese Schwierigkeiten antun, denn zwar ist dieser Fall beruflich "spannend", aber es gehörte mit Sicherheit Mut dazu, ihn zu übernehmen.
Schon bei den mir aus den Internet-Massenmedien vorliegenden Berichten über Beate Zschäpes Sozialisationsbedingungen sind tiefgreifende Bindung- und Beziehungsstörungen, möglicherweise auch Identitätsstörungen bei Frau Zschäpe für mich sehr wahrscheinlich. Daß sie sich dann sukzessive, jedoch über 20 Jahre lang mit den beiden jungen Männern verbunden hat, sowie ihre offenbar sehr soziale, fast mütterliche Funktion in diesem Dreigespann sind vermutlich ebenso nachvollziehbare (und grundsätzlich gesehen typische) Versuche, derartige Sozialisationsdefizite zu kompensieren und letztlich auszuheilen.
Daß es in ihr Grund zu Wut und Haß gibt, wäre ebenfalls nachvollziehbar und entspräche psychologischer Erfahrung. Ebenso wie bei vielen jungen Neonazis (vielleicht den meisten) kann solche Wut nicht auf die eigentlichen Schuldigen des individuellen (kindlichen) Schicksals gerichtet werden, sondern orientiert sich an "der Gesellschaft". Rechte Ideologien machen in ihrer Fixierung auf Ordnung und administrative Vorhersehbarkeit Hoffnung, die sozialisationsbedingte existenzielle Orientierungslosigkeit zu heilen. -
Insgesamt ergibt sich eine Mischung von mutmaßlichen Faktoren, die schon prima vista eine Persönlichkeitsentwicklung wie die von Beate Zschäpe nachvollziehbar macht.
Die grundlegend defizitären Sozialisationsbedingungen, die ich bei Frau Zschäpe annehmen muß, fallen zu einem Teil unbedingt in die Verantwortung von Gesellschaft und Staat. Auch die existenzielle Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, durch die junge Menschen sich zu hassenden Neonazis entwickeln, ist keine individuelle "Privatsache", sondern Symptom für gesellschaftliche Umstände. - Das entschuldigt keine Mordtaten, aber es verstärkt nochmal die Notwendigkeit, daß die Gesellschaft, der Staat zumindest jetzt einen Teil seiner Verantwortung übernimmt, indem Beate Zschäpe ein faires Verfahren bekommt, bei dem sie alle ihr zustehenden Möglichkeiten hat, sich parteilich, im eigenen Interese zu verteidigen. Wie es die Rechtsordnung vorsieht.
Ich kann meinen Eindruck nicht ignorieren, daß es bestimmten Kreisen sehr darauf ankommt, jetzt endlich einmal der Weltöffentlichkeit vorzuführen, daß rechtsradikal motivierte Taten in der BRD tatsächlich hart geahndet werden, - und nachdem Frau Zschäpe als einzige der Gruppe übriggeblieben ist, soll sie unbedingt erhalten bleiben als Objekt dieser Inszenierung.
Wie gesagt, - nichts von alledem entschuldigt Morde.
Mit allen guten Wünschen für Ihre Arbeit und freundlichen Grüßen
Mondrian v. Lüttichau
www.dissoziation-und-trauma.de
Detaillierte Protokolle der einzelnen Tages des NSU-Verfahrens sind hier nachzulesen!