Traumata bei Flüchtlingen – das verkannte Problem (Günter Seidler)
Traumata bei Flüchtlingen – das verkannte Problem
Mannheim/Heidelberg. Der Fall eines verstorbenen Häftlings aus Burkina Faso in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal rückt ein Problem ins Licht der Öffentlichkeit, das bisher nicht thematisiert wurde. Mit den Flüchtlingsströmen aus Afrika, Syrien, dem Iran und Irak kommen tausende Menschen nach Deutschland, die allein durch ihre Erlebnisse in den Heimatländern und auf der Flucht nach Europa als schwerst traumatisiert und damit anfällig für Gewalt und Aggression gelten müssen. Der Tote aus der JVA in Bruchsal beispielsweise war zweifelsfrei extrem gewalttätig: In Freiburger Gefängnis hatte er einem Aufseher Jochbein und Nase gebrochen und den Mann in die Arbeitsunfähigkeit geschickt. Somit wäre eine denkbare Antwort auf die Frage, warum man den Häftling bis zu seinem qualvollen Hungertod in Einzelhaft und damit sich selbst überließ, die Angst der JVA-Beamten, ähnlich malträtiert zu werden wie ihr Kollege in Südbaden.
"Es gibt keine Infrastruktur"
Wie also ist unsere Gesellschaft auf schwer traumatisierte Menschen und ihre ebenso schwer zu ertragenden Reaktionen vorbereitet? Die Antwort des Heidelberger Psychoanalytikers, Traumaforschers und Traumatherapeuten Günter Seidler fällt ebenso knapp wie erschütternd aus: "Gar nicht." Zumindest Mitarbeiter von Ordnungsämtern und Ausländerbehörden, aber auch Juristen sind nach Ansicht des Psychoanalytikers und Psychotraumatologen wenig bis gar nicht darauf geschult. "Das Thema wird in der Regel nicht wahrgenommen."
Der renommierte Experte fällt dieses Urteil nicht aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern mit reichlicher praktischer Erfahrung aus einer Heidelberger Trauma-Ambulanz, die er leitet. Dort werden Migranten aus der Region diagnostiziert, vielen wird eine posttraumatische Belastungsstörung bestätigt. Drei Wochen nach der Diagnose, berichtet Seidler aus seinem Berufsalltag, sollte der oder die Betroffene wieder in Heidelberg vorstellig werden, was entweder nicht passiert oder aber zu der Erkenntnis führt, dass 21 Tage lang keinerlei therapeutische Hilfe stattgefunden hat. "Es gibt in Deutschland keinerlei Infrastruktur für dieses Problem", kritisiert Seidler, wohl wissend, dass ambulante Einrichtungen wie die in Heidelberg Therapie in großem Umfang nicht leisten können.
"Nicht jeder Asylsuchende muss traumatisiert sein, aber knapp die Hälfte der Menschen, die lebensbedrohlichen Ereignissen ausgesetzt sind, reagieren darauf mit Traumafolgestörungen", weiß Seidler. Besonders gefährdet seien Frauen und Menschen mit einer Vortraumatisierung. Beispielsweise Syrer, die in ihrer Heimat den Schlächtern des Islamischen Staats ausgeliefert waren und in deutschen Heimen dann auf gewalttätige Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten treffen.
Schon kleine Maßnahmen können allerdings hilfreich sein, sagt Seidler: Ein Mensch, der die Muttersprache des Betroffenen beherrscht, die Aufklärung des Traumatisierten über sein Krankheitsbild und dessen Folgen oder aber die Chance auf ein Stück Selbstbestimmung im Leben.