Trauma Überfall - die Geschichte eines Opfers
Ein Bericht von Cornelia Färber in der WAZ:
Ruhrgebiet. Marion G. wurde vor zehn Jahren auf dem Heimweg überfallen und misshandelt. Das Trauma hat sie nie überwunden, bis heute leidet sie unter „Flashbacks“. „Meine Seele wurde damals eingeschlossen. Und ist nie weider herausgekommen“, sagt die 62-Jährige.
Alles dreht sich um die Täter
„Es gibt nach einem Verbrechen ein verschwindend geringes Interesse an den Opfern“, sagt Marion G.. Alles drehe sich um die Täter, auch darum, Verständnis für eine Tat aufzubringen. Die Opfer blieben mit ihren Problemen zurück. „Ich habe in meinen Therapien Frauen kennengelernt, die sich geschämt haben, vergewaltigt worden zu sein. Und Männer, die sich geschämt haben, dass ihre Frauen vergewaltigt worden sind“, sagt sie.
Marion G. lebt heute zurückgezogen am Stadtrand im nördlichen Ruhrgebiet. Sie ist zu 70 Prozent schwerbehindert, lebt von einer kleinen Berufsunfähigkeitsrente, um die sie viele Jahre mit der Berufsgenossenschaft hat kämpfen müssen. Ein Überfall wird als „Unfall“ abgewickelt. Entsprechend schwierig war es, ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“ anerkannt zu bekommen, das bei ihr in einem Maße ausgeprägt ist, dass es nicht zu heilen ist. Mehrere Gutachten hat sie über sich ergehen lassen müssen. Vor den Sozialgerichten geklagt, durch alle Instanzen. Ein pensionierter Kripo-Mann vom Weißen Ring stand ihr zur Seite, sie nennt ihn „einen Menschen mit Lebenserfahrung, der getröstet hat, nicht begutachtet“. Die Opferhilfsorganisation zahlte auch den Fachanwalt: „Ohne diese Leute hätte ich es nicht geschafft“.
Davor: ein ausgefülltes Leben
Um zu verstehen, was der Raubüberfall aus ihr gemacht habe, müsse man das „davor“ erzählen, sagt sie. Mit Ende 40 entschließt sie sich, mit ihrem Mann die Restauration einer Sportanlage zu übernehmen. Der Laden läuft gut, sie richtet Feiern aus, Hochzeiten, Empfänge. Zeitweise hat sie sechs, sieben Angestellte. Sie liebt Musik. Klassik. Singt im Gospelchor, genießt die Auftritte als „Frontfrau“, sie umgibt sich gerne mit Menschen, möglichst international. Sie kann resolut sein und einem Gast auch mal sagen, dass er nun lieber gehen möge. Sie ist Trauzeugin bei türkischen Bekannten. „Ich war so richtig multikulti. Jetzt bin ich eine kleine Rassistin“, sagt sie. „Ich war Pazifistin. Jetzt habe ich Gewaltträume. Den jungen Mann, der mir das angetan hat, habe ich in diesen Träumen ‘zig mal umgebracht.“
Bis heute leidet sie unter „Flashbacks“: „Ich höre gebrochenes Deutsch, sehe Männer mit südländischem Aussehen, dann fängt mein Herz an zu rasen. Ich kann schon lange keine Nähe mehr ertragen, keine Intimität. Zwei Jahre nach dem Überfall haben mein Mann und ich uns getrennt. ,Ich gehe jetzt, aber du hast mich schon lange verlassen’, hat er gesagt“.
Sie erinnert sich daran, dass sie die Zeit nach dem Überfall „wie Alice im Wunderland“ erlebte: „Ich stand komplett neben mir.“ Sie erinnert sich an eine „völlig unsensible Untersuchung“ im Krankenhaus, Polizeibeamte seien dabei gewesen, Ärzte, und nur eine Polizistin. Man verweist sie an die Opferambulanz, sie soll in einem vollen Wartezimmer warten, doch auch da fürchtet sie sich vor den ausländischen Männern, die mit ihren Frauen da sitzen.
Die Psychologin rät: „Schießen Sie die Ängste einfach ins Weltall.“
Eine junge Psychologin schließlich rät ihr, ihre Ängste einfach im Geiste in ein Paket zu schnüren und ins Weltall zu schießen: „Ich habe sie gefragt, ob sie denkt, ich sei eine Spät-Pubertierende?“
Ein halbes Jahr versucht sie weiterzumachen wie bisher. Aber die Ängste greifen sich Raum. Sie kauft sich einen Crosstrainer – Bewegung hilft –, steht manchmal drei Stunden auf dem Gerät, nimmt stark ab. Und dann Herzrasen, 200 Schläge pro Minute, Panikattacken. Im Krankenhaus stellt man sie auf den Kopf, „Sie haben einen Terroristen im Körper“, sagt der Arzt. Und: „Sie haben den Überfall überhaupt nicht verarbeitet.“
Trotzdem braucht es drei psychologische Gutachten, bis die Notwendigkeit einer Therapie eingesehen wird. Berufsgenossenschaft und Landesversicherungsanstalt streiten, wer sie bezahlt. Viermal wird Marion G. schließlich in Bad Oeynhausen in der Klinik am Rosengarten behandelt werden, gemeinsam mit traumatisierten Lokführern, die Selbstmörder überrollt haben, Menschen, die von Hunden angefallen wurden, Verbrechensopfern. Auch dort will sie sich selbst heilen: „Ich habe versucht, abends allein durch den Park zu gehen. Und dann konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen. Ich musste abgeholt werden.“
Danach: gefangen in der Opferrolle
Marion G. hat eine schöne, behagliche Wohnung, aber „sie ist abgesichert wie Fort Knox“. Bewegungsmelder, Klappe über der Treppe zum Schlafzimmer, Stahlstange vor der Tür. Sobald es dämmert, lässt sie die Rollos herunter: „Ich spiele Gitarre, schreibe Lieder, lese viel“, sagt sie. Es gibt keinen Fernseher, weil sie keine Krimis sehen kann, keine Gewalt erträgt. Sie hört Radio, doch vor den Nachrichten schaltet sie ab.
Wenige Wochen nach dem Überfall, als sie noch dachte, sie könnte alles vergessen, parkt ein helles Auto in der Nähe ihres Restaurants. Vier Männer sitzen darin. Marion G. ruft die Polizei, steht am Fenster und beobachtet aus der Ferne, wie die Beamten die Papiere der Männer überprüfen. Es wird nichts festgestellt. Die Streife, die die Überprüfung vornimmt, weiß nicht, dass Marion G. überfallen wurde. Sie lässt die Männer laufen. Erst später wird festgestellt, dass der junge Mann dabei war, der Marion G. misshandelt hat.
Viele Bilder hat Marion G. auf ihrem Tablet-PC gespeichert, von dem Leben davor. Fotos von Auftritten mit dem Gospelchor, sie trägt ein festliches Kleid, das lockige Haar offen, sie lächelt. Und dann zeigt sie das eine, das erste aus dem Leben danach, dem Leben nach dem Überfall. Das Gesicht stark angeschwollen, die Augenlider vernäht. Die Ärzte hatten sie aufschneiden müssen, damit das Blut aus der Schwellung laufen konnte. Um die Augen herum blau schillernde Ergüsse. Weiße Lippen. Leerer Blick. „Meine Seele wurde damals eingeschlossen“, sagt die 62-Jährige. „Und ist nie wieder herausgekommen.“
Zehn Jahre ist das jetzt her. Aber Marion G. kann sich an alles erinnern, an jede Kleinigkeit. An die schwarzen Augen des jungen Mannes Zentimeter vor ihrem Gesicht, der ihr das Messer gegen den Hals drückte, gebrochen „sei ruhig“ zischte und ihr sein Knie mit Wucht zwischen die Beine rammte. Der sie in jener Nacht nach der Feier des Tennisclubs, die sie damals in ihrem Restaurant ausgerichtet hatte, gegen die Fenster quetschte, derweil seine Komplizen alles mitnahmen, was sich zu Geld machen ließ, und der dann, zum Schluss, ihren Kopf vor die Scheibe schmetterte, sodass sich ihr Gesicht auf dem Glas abzeichnete. „Er war wütend, weil ich stolz war und nicht um mein Leben gefleht habe. Aber das hätte ich mir nie erlaubt.“ Die Männer flüchten, Marion G. kann gerade noch den Notruf wählen.
Alles dreht sich um die Täter
„Es gibt nach einem Verbrechen ein verschwindend geringes Interesse an den Opfern“, sagt Marion G.. Alles drehe sich um die Täter, auch darum, Verständnis für eine Tat aufzubringen. Die Opfer blieben mit ihren Problemen zurück. „Ich habe in meinen Therapien Frauen kennengelernt, die sich geschämt haben, vergewaltigt worden zu sein. Und Männer, die sich geschämt haben, dass ihre Frauen vergewaltigt worden sind“, sagt sie.
Marion G. lebt heute zurückgezogen am Stadtrand im nördlichen Ruhrgebiet. Sie ist zu 70 Prozent schwerbehindert, lebt von einer kleinen Berufsunfähigkeitsrente, um die sie viele Jahre mit der Berufsgenossenschaft hat kämpfen müssen. Ein Überfall wird als „Unfall“ abgewickelt. Entsprechend schwierig war es, ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“ anerkannt zu bekommen, das bei ihr in einem Maße ausgeprägt ist, dass es nicht zu heilen ist. Mehrere Gutachten hat sie über sich ergehen lassen müssen. Vor den Sozialgerichten geklagt, durch alle Instanzen. Ein pensionierter Kripo-Mann vom Weißen Ring stand ihr zur Seite, sie nennt ihn „einen Menschen mit Lebenserfahrung, der getröstet hat, nicht begutachtet“. Die Opferhilfsorganisation zahlte auch den Fachanwalt: „Ohne diese Leute hätte ich es nicht geschafft“.
Davor: ein ausgefülltes Leben
Um zu verstehen, was der Raubüberfall aus ihr gemacht habe, müsse man das „davor“ erzählen, sagt sie. Mit Ende 40 entschließt sie sich, mit ihrem Mann die Restauration einer Sportanlage zu übernehmen. Der Laden läuft gut, sie richtet Feiern aus, Hochzeiten, Empfänge. Zeitweise hat sie sechs, sieben Angestellte. Sie liebt Musik. Klassik. Singt im Gospelchor, genießt die Auftritte als „Frontfrau“, sie umgibt sich gerne mit Menschen, möglichst international. Sie kann resolut sein und einem Gast auch mal sagen, dass er nun lieber gehen möge. Sie ist Trauzeugin bei türkischen Bekannten. „Ich war so richtig multikulti. Jetzt bin ich eine kleine Rassistin“, sagt sie. „Ich war Pazifistin. Jetzt habe ich Gewaltträume. Den jungen Mann, der mir das angetan hat, habe ich in diesen Träumen ‘zig mal umgebracht.“
Bis heute leidet sie unter „Flashbacks“: „Ich höre gebrochenes Deutsch, sehe Männer mit südländischem Aussehen, dann fängt mein Herz an zu rasen. Ich kann schon lange keine Nähe mehr ertragen, keine Intimität. Zwei Jahre nach dem Überfall haben mein Mann und ich uns getrennt. ,Ich gehe jetzt, aber du hast mich schon lange verlassen’, hat er gesagt“.
Sie erinnert sich daran, dass sie die Zeit nach dem Überfall „wie Alice im Wunderland“ erlebte: „Ich stand komplett neben mir.“ Sie erinnert sich an eine „völlig unsensible Untersuchung“ im Krankenhaus, Polizeibeamte seien dabei gewesen, Ärzte, und nur eine Polizistin. Man verweist sie an die Opferambulanz, sie soll in einem vollen Wartezimmer warten, doch auch da fürchtet sie sich vor den ausländischen Männern, die mit ihren Frauen da sitzen.
Die Psychologin rät: „Schießen Sie die Ängste einfach ins Weltall.“
Eine junge Psychologin schließlich rät ihr, ihre Ängste einfach im Geiste in ein Paket zu schnüren und ins Weltall zu schießen: „Ich habe sie gefragt, ob sie denkt, ich sei eine Spät-Pubertierende?“
Ein halbes Jahr versucht sie weiterzumachen wie bisher. Aber die Ängste greifen sich Raum. Sie kauft sich einen Crosstrainer – Bewegung hilft –, steht manchmal drei Stunden auf dem Gerät, nimmt stark ab. Und dann Herzrasen, 200 Schläge pro Minute, Panikattacken. Im Krankenhaus stellt man sie auf den Kopf, „Sie haben einen Terroristen im Körper“, sagt der Arzt. Und: „Sie haben den Überfall überhaupt nicht verarbeitet.“
Trotzdem braucht es drei psychologische Gutachten, bis die Notwendigkeit einer Therapie eingesehen wird. Berufsgenossenschaft und Landesversicherungsanstalt streiten, wer sie bezahlt. Viermal wird Marion G. schließlich in Bad Oeynhausen in der Klinik am Rosengarten behandelt werden, gemeinsam mit traumatisierten Lokführern, die Selbstmörder überrollt haben, Menschen, die von Hunden angefallen wurden, Verbrechensopfern. Auch dort will sie sich selbst heilen: „Ich habe versucht, abends allein durch den Park zu gehen. Und dann konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen. Ich musste abgeholt werden.“
Danach: gefangen in der Opferrolle
Marion G. hat eine schöne, behagliche Wohnung, aber „sie ist abgesichert wie Fort Knox“. Bewegungsmelder, Klappe über der Treppe zum Schlafzimmer, Stahlstange vor der Tür. Sobald es dämmert, lässt sie die Rollos herunter: „Ich spiele Gitarre, schreibe Lieder, lese viel“, sagt sie. Es gibt keinen Fernseher, weil sie keine Krimis sehen kann, keine Gewalt erträgt. Sie hört Radio, doch vor den Nachrichten schaltet sie ab.
Wenige Wochen nach dem Überfall, als sie noch dachte, sie könnte alles vergessen, parkt ein helles Auto in der Nähe ihres Restaurants. Vier Männer sitzen darin. Marion G. ruft die Polizei, steht am Fenster und beobachtet aus der Ferne, wie die Beamten die Papiere der Männer überprüfen. Es wird nichts festgestellt. Die Streife, die die Überprüfung vornimmt, weiß nicht, dass Marion G. überfallen wurde. Sie lässt die Männer laufen. Erst später wird festgestellt, dass der junge Mann dabei war, der Marion G. misshandelt hat.
Trauma Überfall - Ein Opfer für den Rest des Lebens | WAZ.de - Lesen Sie mehr auf:
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