Die psychotherapeutische Versorgungsrealität komplex traumatisierter Menschen (PHÖNIX)
Die psychotherapeutische Versorgungsrealität komplex traumatisierter Menschen in Deutschland
Ergebnisse einer Studie
Johanna Sommer
Initiative Phoenix - Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e.V.
Hier das Fazit der Ergebnisse:
"Die Beteiligung an der Umfrage zur psychotherapeutischen Versorgungsrealität von Menschen mit
sogenannten komplexen Traumafolgestörungen in Deutschland hat die Erwartungen der Initiative
Phoenix weit übertroffen. Ziel war es, etwas über die Erfahrungen einzelner, unterschiedlich mit
dem Thema Traumatherapie konfrontierter Menschen mit den praktischen Auswirkungen der
pauschalen Psychotherapie-Richtlinien zu erfahren. Dazu wurden Fragen zu verschiedenen
Aspekten gestellt und besonderes Gewicht auf Kommentarmöglichkeiten gelegt, damit der
Komplexität des Themas aus verschiedenen Blickwinkeln möglichst viel Raum gegeben werden
konnte. Das Interesse an der Teilnahme an der Umfrage war so groß, dass daraus eine Studie mit
ernstzunehmender Aussagekraft wurde.
Die Auswertung der Fragebögen bestätigt die dringende Notwendigkeit der Ergänzung der
Psychotherapie-Richtlinien um einen Behandlungsrahmen für Menschen mit komplexen
Traumafolgestörungen. Das Empfinden der Versorgungsrealität einzelner Betroffener unterscheidet
sich dabei nicht von den Erfahrungen der Menschen, von denen sie persönlich oder professionell,
ambulant und stationär begleitet, unterstützt bzw. behandelt werden.
Außerdem bestätigen und verdeutlichen die Ergebnisse der Studie Handlungsbedarf in vielen
Bereichen der Versorgung. Das betrifft die intra- und interdisziplinäre Vernetzung, die Anerkennung
von Traumatherapie als eigenständige methodenübergreifende Behandlungsmethode, die
Weiterbildung von GutachterInnen, BehandlerInnen und Fürsorge-Tragenden, sowie die Aufklärung
über Traumafolgen bei Kostenträgern, Behörden und Gerichten.
Die fehlende Gewährleistung der Finanzierung ambulanter Psychotherapie ist ein Problem, das alle
Beteiligten (mit)betrifft, zu erheblichen Versorgungsmängeln führt und zu unnötigen Folgekosten
unmittelbar beiträgt. Betroffene, deren Angehörige und BehandlerInnen berichten über die
vermeidbare Chronifizierung von Beschwerden, über vermeidbare Rückfälle, Stagnation und
Symptomverlagerungen, über vermeidbare sekundäre Traumatisierungen und psychische
Erkrankungen der Helfenden und BehandlerInnen. Das führt zu vermeidbaren medizinischen und
stationären Behandlungen und zur dauerhaften Behinderung Betroffener an gesellschaftlicher
Teilhabe.
Mehr als 80% der Betroffenen, die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehen, haben die mittlere
Reife oder einen höheren Bildungsabschluss. Mehr als die Hälfte der zum Zeitpunkt der Erhebung
arbeitsunfähigen Betroffenen hat die Schule mit Fachschulreife oder Abitur abgeschlossen, jede/r
Dritte hat ein abgeschlossenes Studium im Lebenslauf.
Die meisten Menschen, die Therapie wegen komplexer Traumafolgestörungen suchen, haben
"eigentlich" eine gute Prognose oder könnten eine gute Prognose haben, wenn sie rechtzeitig
qualifizierte Hilfe bekämen, die individuell bedarfsgemäß angepasst würde, und wenn sie sich auf
deren Gewährleistung langfristig verlassen könnten.
Es fehlt flächendeckend an niederschwelligen Hilfsangeboten, vor allem für Jungen und Männer.
Es fehlt an barrierefreien Praxen und an stationären Angeboten für pflegebedürftige Trauma-
Betroffene.
Es fehlt an kurzfristig erreichbaren Zufluchtsstätten in Krisensituationen.
Es fehlt die Zulassung qualifizierter TherapeutInnen zu den Finanzierungsmöglichkeiten der
Krankenkassen.
Es fehlt in den Psychotherapie-Richtlinien ein Behandlungsrahmen für Menschen mit (komplexen)
Traumafolgestörungen.
Es fehlt eine intradisziplinäre Einigung auf ein integratives Traumatherapie-Konzept, das als
eigenständiges Verfahren verstanden, gelehrt, angewendet und für dessen Finanzierung gesorgt
werden kann.
Es fehlt an GutachterInnen, die sich mit Traumafolgen und Komorbiditäten sowie
Behandlungsmöglichkeiten auskennen. Traumatisierungen und ihre Folgen müssen in Anträgen für
Therapiestunden verschwiegen und Symptome abgeschwächt oder verzerrt dargestellt werden, weil
die Wahrheit nicht ernstgenommen wird, zu einer Negierung des Behandlungsbedarfs führt oder
dazu, dass Betroffene als "zu krank" aufgegeben werden.
Es fehlt an Aufklärung - in der Gesellschaft, in medizinischen, psychologischen und sozialen
Ausbildungen, in Behörden, bei JuristInnen, bei der Polizei und auch bei Betroffen und ihren
HelferInnen.
Es fehlt an Hilfsangeboten für Angehörige und andere privat und professionell Begleitende.
Es fehlt ein sinnvoller Umgang mit menschlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen
Ressourcen. Betroffene sind zu oft alleingelassen oder ausgeliefert, Angehörige und HelferInnen
ebenso. Beratungsstellen und wichtige Begleitende sind finanziell meist komplett auf sich allein
gestellt bzw. immer wieder existentiell bedroht.
BehandlerInnen aller "Richtungen" sind oft über ihre Grenzen belastet und ebenso alleingelassen,
teilweise in gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nöten. Manche bringen sich sogar persönlich,
existentiell und strafrechtlich in Gefahr, weil sie sich hilflos in der Verantwortung fühlen, Lücken
des Versorgungssystems auszugleichen. Dass weit mehr als die Hälfte der TherapeutInnen als
"Tricks" zur Weiterfinanzierung der Therapien für schwer traumatisierte KlientInnen angaben, sich
selbst auszubeuten, spricht für sich. Andere stumpfen ab und behandeln ihre KlientInnen ebenso
oberflächlich wie die Richtlinien pauschal sind.
Es fehlt an Transparenz und Vernetzung, oft an Augenhöhe und zu oft an Respekt.
Es fehlt an Möglichkeiten und Unterstützung, sich gegen schädigende Therapien und
misshandelnde TherapeutInnen zu wehren, sie sichtbar zu machen und Konsequenzen sowohl gegen
die Betreffenden als auch für die Betroffenen zu erreichen.
Es fehlt an gut ausgebildeten Fachleuten in allen Bereichen der Versorgung, besonders in
Akutpsychiatrien.
Da, wo Finanzierung sicher ist, wird die Qualität nicht überprüft. Da, wo sich engagiert um Qualität
und Kontinuität bemüht wird, liegt die Erreichbarkeit für Menschen ohne Reserven oft außerhalb
ihrer Möglichkeiten. Krankenkassen äußern gegenüber Betroffenen wie Behandelnden, dass sie die
Finanzierung stationärer Behandlung nicht in Frage stellen - ohne Qualitätsprüfung und/oder ohne
Handlungsbedürfnis bei mangelhafter oder schädigender Versorgung. Zu ambulanter Versorgung
außerhalb der Richtlinien seien sie nicht verpflichtet. Es fehlt an juristischer Konsequenz.
Betroffene, die sich wehren, werden mit dem Verweis auf ihre Störungsbilder nicht ernst genommen
oder als unkooperativ, therapieresistent oder "austherapiert" teilweise wiederholt abgewiesen.
Angehörige und andere Helfende werden zu oft übersehen.
BehandlerInnen, die sich engagieren, werden zu oft belächelt.
Absprachen und Vernetzung finden zu selten statt.
Andererseits belegen die Ergebnisse der Studie, wie wichtig, lebensrettend und heilungsfördernd
bedarfsgerechte Hilfe, menschlicher Umgang, Respekt, authentische Bindungsangebote und
Verläßlichkeit sein können. Betroffene mit guten therapeutischen Erfahrungen erleben sich
stabilisiert, erreichen (Teil-)Arbeitsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, eine Verbesserung ihrer
Lebens- und Gesundheitssituation und engagieren sich in sozialen Berufen, Organisationen und
Ehrenämtern. Verbündete, Beratende und TherapeutInnen bestätigen das.
Die meisten Erfolge, die trotz der mangelhaften Rahmenbedingungen erzielt werden konnten,
brauchten hartnäckigen Überlebenswillen, das überragende persönliche Engagement Einzelner
und/oder glückliche Zufälle. Viele Betroffene, aber auch viele in der Folge erkrankte Angehörige
und Helfende aller Bereiche fallen durch die Lücken im Versorgunsgsnetz und müssen auf lange
Sicht sozialfürsorglich und medizinisch versorgt werden. Es bleibt zu prüfen, ob eine frühzeitig
begonnene und kontinuierlich angemessen fortgesetzte Psychotherapie ebenso kostenintensiv für
Versicherungen und Versorgungsämter wäre.
Für die Mehrzahl der HelferInnen und TherapeutInnen ist es zur Hauptaufgabe der Begleitung,
Beratung und auch der Psychotherapie geworden, ihre KlientInnen innerhalb unsicherer
Bedingungen immer wieder zu stabilisieren und teilweise notdürftig am Leben zu halten, weil für
die eigentlich nötige Traumatherapie keine Zeit und kein Behandlungsrahmen vorgesehen ist. Das
ist aus allen Richtungen betrachtet unbedingt veränderungsbedürftig.
Traumafolgen verschwinden nicht durch Verschweigen und Verdrängen, sondern verursachen
nachwachsende körperliche, seelische und gesellschaftliche Krankheiten, die transgenerational
expandieren. Es bleibt zu hoffen, dass sich die in der Initiative Phoenix begonnene Vernetzung aller
betroffenen Menschen - ob KlientInnen, PatientInnen, Helfende, Angehörige, Beratende,
Therapierende oder Kostenträger - ausweitet und zu einer dauerhaften und fruchtbaren
Auseinandersetzung "in einem Boot" wächst."
Initiative Phoenix - Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e.V.
c/o Johanna Sommer
PF 2334
37013 Göttingen
Mail:
www.initiative-phoenix.de
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