PTBS bei Kindern wird zu wenig beachtet
Marion Sonnenmoser
Posttraumatische Belastungsstörung: Ausmaß bei Kindern unterschätzt
Diagnoseverfahren der posttraumatischen Störungen waren bisher hauptsächlich auf Erwachsene ausgerichtet. Neue, vielversprechende Therapien sollen nun auch Kindern und Jugendlichen helfen.
Ein einjähriges Mädchen, das bei einem Erdbeben seine Eltern verliert – ein Kindergartenkind, das von seinem Onkel sexuell missbraucht wurde – ein Fünfjähriger, der bei einem Autounfall schwer verletzt wird: Wie wirken solche Ereignisse und Übergriffe auf Kinder, und welche Folgen haben sie? Noch vor knapp 20 Jahren vertraten die meisten Experten die Meinung, dass Kinder davon nichts oder kaum etwas mitbekommen. Ihre kognitiven und psychischen Strukturen seien noch nicht ausgereift, um zu reflektieren und das Geschehene in all seinen Dimensionen bewusst zu begreifen. Auch nahm man an, dass sich nach den meisten traumatischen Ereignissen keine oder nur minimale und vor-übergehende Störungen entwickelten. Erst mit der Einführung des DSM-III-R (1988) erkannte die Fachwelt posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) auch bei Kindern an und musste sich mittlerweile eingestehen, dass das Ausmaß psychischer Traumatisierungen im Kindes- und Jugendalter bislang unterschätzt wurde. Wie aktuelle Untersuchungen an traumatisierten Kindern zeigen, erfüllt teilweise über die Hälfte die Bedingungen für eine PTBS-Diagnose.
Emotionale Taubheit gehört zu den klassischen Symptomen
Heute weiß man, dass Kinder schon vom ersten Lebensjahr an psychische Erkrankungen infolge von stresshaften Erfahrungen entwickeln können. Zu den häufigsten Ursachen posttraumatischer Störungen im Kindes- und Jugendalter zählen körperliche und sexuelle Gewalt, Vernachlässigung, Unfälle, Naturkatastrophen und lebensbedrohliche Krankheiten. Die Symptome können je nach Alter und Individuum erheblich variieren und sich von den Symptomen bei Erwachsenen unterscheiden. Zu den klassischen Traumasymptomen bei Kindern und Jugendlichen zählen emotionale Taubheit, autonome Übererregung und Wiedererleben.
Emotionale Taubheit zeigt sich durch Entfremdungsgefühle, Emotionslosigkeit und vermindertes Interesse an zuvor bedeutsamen Dingen. Die Wahrnehmung der Zukunft ist unvollständig beziehungsweise verkürzt. Die Kinder glauben zum Beispiel nicht mehr daran, jemals die Schule zu beenden oder erwachsen zu werden. Hinzu kommen übermäßige Sorgen um Familie und Freunde, regressives Verhalten und der Verlust von erworbenen Fertigkeiten.
Eine erhöhte autonome Erregung führt zu übermäßiger Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Aggressivität. Es stellen sich Schlaf-, Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten ein. Bestehende Leistungsstörungen werden verstärkt, Schulleistungen lassen nach.
Das Wiedererleben des traumatischen Geschehens im Wachen oder Schlafen (Intrusionen) oder die Konfrontation mit traumaassoziierten Dingen, Personen oder Situationen kann sehr belasten. Sie können das Gefühl hervorrufen, das Trauma wieder zu durchleben. Typische Reaktionen sind starkes Klammern an die Bezugspersonen, auffällige Aggressivität, Angst vor Dunkelheit oder dem Alleinsein und häufige Bauch- oder Kopfschmerzen.
Die Diagnosestellung gestaltete sich bis vor Kurzem relativ schwierig, da die diagnostischen Instrumente und Verfahren für erwachsene PTBS-Betroffene entwickelt worden waren und der jungen Patientengruppe nicht gerecht wurden. Seit einigen Jahren werden jedoch neue Instrumente erprobt und vorhandene Instrumente adaptiert, um den Besonderheiten traumatischer Störungen im Kindes- und Jugendalter zu entsprechen. Folgende diagnostische Verfahren zur Erfassung posttraumatischer Symptome sind zurzeit verfügbar:
- Child Posttraumatic Stress Disorder Reaction Index (CPTSD-RI) (auch in deutschsprachiger Version)
- Clinician Administered PTSD Scale for Children and Adolescents (CAPS-CA) (teilweise deutschsprachige Version: Interview zur Erfassung der posttraumatischen Belas-tungsstörung [IBS-P-KJ])
- Semistrukturiertes Interview und Beobachtungsbogen für Säuglinge und Kleinkinder (PTSDSSI) (auch deutschsprachige Version)
- Preschool Age Psychiatric Assessment (PAPA)
- PTSD Symptoms in Preschool Children (PTSD-PAC)
- Trauma Symptom Checklist for Young Children (TSCYC).
Eine Traumatherapie verfolgt verschiedene Ziele
An die Therapie traumatisierter Kinder sind verschiedene Voraussetzungen gebunden. Sie muss beispielsweise die zentralen kindlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Trost und Kontrolle befriedigen und selbstwerterhöhende und handlungsaktivierende Erfahrungen vermitteln. Die Beziehungs- und Settinggestaltung sollte strukturierend und ressourcenorientiert erfolgen. Das therapeutische Arbeitsbündnis sollte auf den bewährten Grundsätzen von Kongruenz, Wertschätzung des Kindes und empathischen Einfühlungsvermögen beruhen. Zur Motivierung meint der Psychologe und Traumaexperte Priv.-Doz. Dr. Markus Landolt vom Kinderspital Zürich: „In der therapeutischen Arbeit sollte der Therapeut der Motivierung des Kindes und seiner Bezugspersonen zur Traumakonfrontation einen großen Stellenwert beimessen.“ Motivierend wirken beispielsweise ein transparentes Vorgehen, gemeinsame Verstehensmodelle des Traumas und der Folgesymptomatiken und ein informiertes Einverständnis über Vorgehen und Ziele. Unerlässlich sind darüber hinaus eine adäquate medizinische Versorgung, Schutz vor weiterer Traumatisierung, Unterstützung durch Bezugspersonen und Veränderungen der Lebensumwelt, damit die Kinder wieder entwicklungsspezifische Aufgaben angehen und mögliche sekundäre Traumafolgen (zum Beispiel Schulversagen, Verlust von Freunden, Invalidität und so weiter) aufarbeiten können.
Die Traumatherapie verfolgt verschiedene Ziele, zum Beispiel eine Neuverarbeitung und -bewertung des traumatischen Geschehens. Um dies zu erreichen, muss die Konfrontation vom Kind als kontrollierbar erlebt werden und so schonend wie möglich erfolgen. Darüber hinaus wird angestrebt, dass die Kinder die affektive Regulationsfähigkeit und die Kontrolle über das eigene Verhalten wiedererlangen. Trigger sollten nach der Behandlung desensibilisiert sein. Letztendlich soll das traumatische Erlebnis als Teil eines neuen, konstruktiven Selbst- und Weltbildes gesehen werden.
Zur Behandlung traumatisierter Kinder und Jugendlicher werden mittlerweile verschiedene Verfahren eingesetzt, von denen hier einige exemplarisch aufgeführt werden (Kasten). Bei den meisten Verfahren steht ein streng wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis noch aus. Trotzdem werden sie erwähnt, da sie sich in der Praxis als wirksam erwiesen haben und ihre klinische Evidenz möglicherweise schon bald empirisch gesichert wird. Bei den meisten Verfahren der Traumatherapie läuft die Behandlung in mehreren Phasen ab: Stabilisierung, Traumabearbeitung, Integration. Die Verfahren unterscheiden sich vor allem in der Art und Weise, wie das Trauma in der zweiten Phase bearbeitet wird.
Stabilisierung: Bevor mit der Traumabearbeitung im eigentlichen Sinne begonnen werden kann, muss das Kind körperlich, sozial und affektiv so weit stabilisiert sein, dass es in der Lage ist, die belastende Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen in Angriff zu nehmen. Vorausgesetzt wird also, dass die traumatisierten Kinder so behandelt sind, dass körperliche Leiden eine Traumatherapie nicht behindern. Die Kinder müssen sich zudem auf ein sicheres Beziehungsnetz abstützen können. Die Stabilisierung im affektiven Bereich zielt auf die allgemeine Stärkung des Selbstwertgefühls und der Ich-Funktionen (vor allem Affekttoleranz und -regulation) ab, um Dissoziation und Überflutung bei der Traumakonfrontation zu verhindern; dies kann unter Umständen viel Zeit in Anspruch nehmen.
Traumabearbeitung: Die meisten traumatherapeutischen Verfahren halten eine direkte Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis beziehungsweise den traumabezogenen Erinnerungen im geschützten Rahmen für essenziell für eine erfolgreiche Behandlung. In der Art und Weise, wie die Auseinandersetzung mit dem traumatischen Erlebnis stattfindet, gibt es neben Gemeinsamkeiten auch Schwerpunkte beziehungsweise Unterschiede zwischen den verschiedenen Therapieverfahren. So legt beispielsweise die kognitiv-behaviorale Therapie ein besonderes Gewicht auf die In-sensu- oder In-vivo-Exposition und auf die Korrektur dysfunktionaler, traumabezogener Kognitionen. Spieltherapeutische Ansätze betonen hingegen, dass eine vollständige Verarbeitung des Traumas auch auf der Spielebene möglich ist, ohne dass auf der Realebene eine Traumaexposition erfolgen muss.
Integration: Nach erfolgter Traumabearbeitung stehen die Integration des Traumas und seiner Folgen in die individuelle Biografie im Zentrum der Behandlung. Die oftmals eingeschränkte Zukunftsorientiertheit ist in dieser Phase in der Regel überwunden. Der Fokus der Therapie kann sich daher auf zukunftsbezogene Themen wie die Wiederaufnahme von Entwicklungsaufgaben verlagern, die im Rahmen der eigentlichen Traumabearbeitung im Hintergrund standen. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil eine allzu eingeengte Konzentration auf das Trauma und seine negativen Folgen dazu führen kann, dass traumatisierte Kinder in ihrer Opferrolle verharren und eine Opferidentität ausbilden. Die Fokussierung auf eine zukunftsorientierte und salutogenetische Perspektive kann dem betroffenen Kind oder Jugendlichen hingegen helfen, sein Leben wieder aktiv in die Hand zu nehmen.
Bei der Behandlung spielen die Familie beziehungsweise andere, nahestehende Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Bei Jugendlichen sind dies nicht nur Eltern, Geschwister oder Freunde, sondern zum Beispiel auch Gleichaltrige, Klassenkameraden, Kollegen in Ausbildungsstätten oder Vereinen, Trainer, Lehrer und fester Freund oder feste Freundin. Allen traumatherapeutischen Verfahren ist gemeinsam, dass sie dem Einbezug des sozialen Umfelds einen bedeutsamen Platz in der Therapie einräumen. Um den traumatisierten Kindern und Jugendlichen unterstützend beistehen zu können, muss den Bezugspersonen bei Bedarf eine adäquate Aufarbeitung des Geschehens ermöglicht oder ein spezielles Training zuteil werden.
Ein besonderer Fall liegt allerdings bei einer intrafamiliär bedingten Traumatisierung eines Kindes vor, beispielsweise im Rahmen von familiärer Gewalt oder sexuellen Übergriffen durch ein Familienmitglied. In solchen Situationen hat der Schutz des Kindes vor weiteren Traumatisierungen Priorität, und es müssen entsprechende Maßnahmen des Kindesschutzes unter Einbezug der zuständigen Behörden eingeleitet werden.
Die Behandlungsdauer von traumatisierten Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich je nach Verfahren und Schwere der Traumatisierung. EMDR, KIDNET, Hypnotherapie und traumafokussierte KBT (Kasten) sind für einfach traumatisierte Kinder als Kurzzeittherapien mit zwei bis 16 Sitzungen konzipiert. Die Behandlungsdauer komplex traumatisierter Kinder liegt höher, und zwar in der Regel bei mehr als einem Jahr, wobei vor allem PITT, MPTT-KJ und Spieltherapie zur Anwendung kommen.
Trotz der Aufmerksamkeit, die die Traumaforschung des Kindes- und Jugendalters in den letzten Jahren erfährt, stecken noch viele Bereiche in den Kinderschuhen. So mangelt es im deutschsprachigen Raum beispielsweise an Einrichtungen für die Akutversorgung von Kindern und Jugendlichen (Traumaambulanzen). Auch die Möglichkeiten einer Pharmakotherapie sind noch weitgehend unerforscht. Daher können Empfehlungen für eine alleinige oder psychotherapiebegleitende pharmakologische Behandlung traumatisierter Kinder und Jugendlicher zurzeit nicht gegeben werden. Ebenfalls besser erforscht werden sollten subgruppen- und altersspezifische Behandlungsangebote und die Wirksamkeit verschiedener psychotherapeutischer Verfahren. Darüber hinaus sollten Fachgesellschaften sich der Therapeutenausbildung stärker annehmen. Die Ausbildung in der Traumatherapie für Kinder und Jugendliche gehört nämlich nicht zur Grundausbildung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Es fehlt daher an fundiert ausgebildeten Therapeuten; zudem erhöht das Fehlen zertifizierter Abschlüsse die Gefahr, dass sich unseriöse Anbieter etablieren. Allerdings gibt es seit Kurzem ein Curriculum „Spezielle Psychotraumatherapie bei Kindern und Jugendlichen“ der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT e.V.), welches die Ausbildungsinhalte für Kindertraumatherapeuten regelt und den Erwerb eines Fachtitels ermöglicht.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
LITERATUR
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Landolt M, Hensel T: Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe 2008.
Nader K: Understanding and assessing trauma in children and adolescents: Measures, methods, and youth in context. New York: Routledge 2007.
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Steil R, Straube ER: Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 2002; 31(1): 1–13.
Auszug aus einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt PP 8, Ausgabe September 2009, Seite 413.
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