Traumata in der Kindheit führen zu Veränderungen des Hirngewebes
Erschütternde Kindheitserlebnisse hinterlassen in der Regel bleibende seelische Wunden. Die Folgen können etwa Depressionen, Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen sein. Ursächlich sind hierfür einerseits epigenetische Steuerungssysteme, die bestimmte Gene dauerhaft aktivieren oder abschalten. Wesentlich beitragen könnten hierzu aber auch strukturelle Anpassungsprozesse im Gehirn. Denn Traumata führen offenbar zu ganz spezifischen Veränderungen der Hirnarchitektur. Hierfür sprechen unter anderem die aktuellen Erkenntnisse einer internationalen Forschergruppe um Christine Heim vom Institut für Medizinische Psychologie an der Charité in Berlin. Der neuen Studie zufolge scheint die Hirnrinde von Frauen, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch oder emotionale Qualen ertragen mussten, an bestimmten Stellen ungewöhnlich dünn zu sein - und zwar in Bereichen, die von den einschneidenden Erfahrungen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Hinweise auf einen solchen Zusammenhang erhielten die Wissenschaftler in einer Untersuchung, an der 51 zum Teil depressive, aber körperlich gesunde junge Frauen mitgewirkt hatten. Wie die Forscher im „American Journal of Psychiatry“ (Bd.170, S.616) berichten, waren 28 der Probandinnen in ihrer Kindheit sexuellem Missbrauch oder emotionalen Misshandlungen, darunter Vernachlässigung und Lieblosigkeit, ausgesetzt gewesen. Die übrigen 23 Teilnehmerinnen hatten keine solchen Traumata erlitten und dienten daher als Vergleichsgruppe.
Schmalere Hirnrinde
Wie Einblicke in das Gehirn der Probandinnen mit Hilfe der Kernspintomographie erbrachten, bestanden auffallende Unterschiede zwischen den beiden Kollektiven. So war die Hirnrinde der vormals sexuell missbrauchten Frauen in einigen Regionen um etwa ein Drittel bis ein Viertel dünner als der Kortex der Teilnehmerinnen mit unbeschwerter Kindheit. Das galt insbesondere für jenen Bereich der somatosensorischen - die Wahrnehmung von Körperempfindungen regulierenden - Hirnrinde, der für die Geschlechtsorgane zuständig ist. Analoge Resultate erzielten die Forscher, als sie das Gehirn der früher emotional misshandelten Frauen genauer unter die Lupe nahmen. Bei diesen Betroffenen befanden sich die verdünnten Areale größtenteils in kortikalen Regionen, die Ich-bezogene Verhaltensweisen und Empfindungen - etwa das Selbstwertgefühl, die Selbsteinschätzung und die Selbstreflektion - regulieren. Darüber hinaus gab es auch einige Missbrauchsopfer, bei denen das hirngewebliche Korrelat des autobiographischen Gedächtnisses ausgesprochen dünn war. In diese Gruppe fielen vornehmlich Frauen, die schon sehr früh in ihrer Kindheit emotionale oder sexuelle Traumata erlitten hatten. Laut den Studienautoren ist diese Beobachtung möglicherweise eine Erklärung, weshalb sich in sehr jungen Jahren missbrauchte Kinder später oft nicht oder nur bruchstückhaft an die erlittenen Qualen erinnern.
Warum aber wachsen Hirnstrukturen, die bei traumatischen Eindrücken eine zentrale Rolle spielen, nicht zur vollen Größe heran oder - was man ebenfalls nicht ausschließen kann - bilden sich wieder zurück? Der kindliche Organismus versuche auf diese Weise vielleicht, die Psyche vor den überwältigenden Eindrücken zu schützen, sagt Heim: „Möglicherweise hemmt er die in das betroffene Hirnareal eingehenden Nervenimpulse, um größeren Schaden abzuwenden. Dies könnte dazu führen, dass die dort befindlichen Nervenzellen weniger Synapsen ausbilden und damit zugleich weniger Verbindungen zu anderen Neuronen herstellen.“
Anpassung als Schutz?
Die geringere Zahl an Synapsen dürfte laut der Berliner Psychologin auch der Grund sein, weshalb die Hirnrinde an manchen Stellen so dünn ist. Für weniger wahrscheinlich hält sie es, dass die Zahl der Neuronen zurückgeht. Ob und wie gut das Gehirn in der Lage ist, frühkindliche Traumata durch eine Unterdrückung von Nervenimpulsen abzuschwächen, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Verschiedenen Beobachtungen zufolge könnte es hierzu wenigstens teilweise fähig sein. So gelingt es dem zentralen Nervensystem etwa, andere Arten von unangenehmen oder störenden Einflüssen, darunter Geräusche und Schmerzen, bis zu einem gewissen Grad auszublenden. Insofern könnten die von Christine Heim und den anderen Forschern entdeckten strukturellen Anpassungsprozesse im Gehirn geeignet sein, die Traumaopfer vor dem Schlimmsten zu bewahren. „Der Preis dafür könnten gleichwohl psychosomatische Beschwerden sein, die vielfach im späteren Leben auftreten“, sagt die Psychologin. So leiden etliche Frauen, die als Mädchen sexuell missbraucht wurden, an Unterleibsschmerzen und sexuellen Störungen.