Über Christian Kracht (Autor mit traumatischer Kindheit)
Dreh dich (nicht) um
Es rumorte im Vorfeld der traditionsreichen Veranstaltung. Die Plakate, auf denen das Gesicht Christian Krachts mit krass photoshopvertieften Falten die drei Abende der Frankfurter Potikvorlesung unter dem Thema „Emigration“ ankündigten, befeuerten die Neugier. Zum ersten Mal würde der 1967 im schweizerischen Saanen geborene, umstrittene Autor, der heute nach Stationen auf mehreren Erdteilen mit seiner Frau, der Regisseurin Frauke Finsterwalder, in Los Angeles lebt, öffentlich ausführlich zu seinen Schreiben äußern, jener Autor, der sich in Interviews den Fragen sanft entzogen, dabei stets ein wenig ein gewitzter Autoren-Igel gewirkt hatte, der sich den ihn deutenden Hasen, immer voraus war. Was würde Kracht, dessen Romane Bestseller und in dreißig Sprachen übersetzt sind, mit der Rolle des Poetikdozenten anfangen?
Trotz sommerlichen Außentemperaturen mit Parka und kariertem Wollschal angetan, fröstelnd und scheu, hatte Kracht, als er ans Mikro trat, dann so gar nichts von dem maskulin Wettergegerbten an sich, das aus Foto auf dem Plakat spricht. Er bedankte sich für die Einladung und bekannte seine „unendlich tiefe Angst“, nun vor Publikum zu sprechen. Er habe die ehrenvolle Einladung nicht ausschlagen wollen, müsse aber sein Skript vorlesen, um nicht zu sprechen wie ein „autistischer Säugling“.
Und während man noch immer damit beschäftigt war, zu rätseln, um welche Art von Inszenierung es sich hier handele, während der Autor eingestand, er habe beim erneuten Lesen seiner Romane vieles darin als halb oder nur viertelfertig empfunden, nur wenige gelungene Stellen gefunden, wie man sie im Totenreich, im Zustand des Traums oder in der Imagination des Kindes erreiche, wo man von der Vernunft nicht zensiert werde, steuerten seine Ausführungen schon auf die Enthüllung zu, mit dem er das Publikum sozusagen „vom Sonnenschein in den Schatten“ führte: Zu der Schilderung seiner Missbrauchserfahrungen als Schüler des kanadischen Lakefield College, die er in der Erinnerung über Jahrzehnte als „false memory“ abgespeichert hatte.
Erkenntnis gibt es nur blitzhaft
Christian Kracht legte an diesem Abend, selbst sichtlich bewegt und verunsichert, offen, wie eng seine literarischen Imaginationen mit einem Trauma verknüpft sind, das aus Mißbrauch herrührt, diese Erfahrung ins Unbewusste verschob, ehe sich die blitzhafte Erkenntnis einstellte, dass es sich tatsächlich um reale Erfahrung handelt. Mit Blick auf Walter Benjamins „Über den Begriff der Geschichte“, in dem es heißt: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten“, formulierte Kracht es so: „In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Ein Text ist der lang anhaltende Donner“.
Dem gebannten und sichtlich erschrockenen Publikum schilderte er dann seine Zeit als Schüler unter der Gewalt des Father Keith Gleed, in der sich der zwölfjährige Junge mehrfach die Hose ausziehen, dem Pastor den nackten Hintern zudrehen musste und, gezwungen, sich vornüberzubeugen, mit Schlägen auf den nackten Hintern malträtiert wurde, danach Geräusche vernahm, die darauf schließen ließen, dass der Pastor sich selbst befriedigte. Nie habe er sich umgedreht, so Kracht, er habe die Erfahrungen, die er als „untersetzter, kleiner, blonder Schüler aus der Schweiz, der von den Mitschülern als Sonderling eingestuft und als „Heidi“ verspottet wurde, relegiert in den „Tümpel der Erinnerung“. Beschwichtigt wurde er von den Eltern, denen er am Telefon von der Grausamkeit berichtete. Sie deklarierten die Schilderungen als Auswüchse einer kindlichen Phantasie, aus der heraus sich Kracht zuvor als Autor von Beatles-Songtexten imaginiert hatte. Die reale Erfahrung wurde dadurch weiter ins Phantasmatische verschoben.
Erst als im Herbst 2017 die Weinstein-Debatte aufkam und zeitgleich zum Gedenken des 2009 verstorbenen Keith Gleed ein Taufbecken zu seinen Ehren eingeweiht werden sollte, machten ehemalige Schüler des kanadischen Internats den Missbrauch durch den Pastor öffentlich, der sich mutmaßlich an dreißig Jungen sexuell vergangen hatte. Erst dadurch, vierzig Jahre später, sei sich Kracht des Wahrheitsgehalts von jenem Missbrauch deutlich geworden, den der „weiche, kahle, untersetzte Mann, der sehr gut roch“ an ihm und den Mitschülern verübt hatte.
Was hat Keith Gleed angetrieben, so zu handeln und zu misshandeln? Dies, so Kracht, habe seinem Schreiben als drängende Frage immer schon zugrunde gelegen. Alle seiner Helden hätten etwas von der „ausschweifenden Unbarmherzigkeit“, der „mitleidlosen Härte“ des Pastors. Daraus sei das Panoptikum seiner Romanfiguren entstanden, das ihm, insbesondere im Zuge von „Imperium“, Faschismusvorwürfe eingebracht habe, das aber auch etwa die lustvolle Hingabe des Erzählers von „1979“ an seine Peiniger in einem chinesischen Straflager anders interpretierbar macht.
Theweleits Männerphantasien als Blaupause
Der Ekel, die Unfähigkeit seiner Figuren zu Beziehungen, die fehlenden differenzierten Frauenfiguren, die Lust am Exzess in Krachts Romanen lassen sich vor diesem Hintergrund klarer fassen. Unter Bezugnahme auf Klaus Theweleits epochale Doktorarbeit „Männerphantasien“ aus dem Jahr 1977, die auf der Grundlage psychoanalytischer Konzepte und materialreich durch Quellen belegt, faschistisches Bewusstsein und die soldatische Prägung des Ich ins öffentliche Blickfeld rückte, schilderte Kracht, wie seine Romanhelden zum großen Teil als Personen vom „faschistischen Typ“ inszenieren, die durch Prügel und militärischen Drill ein sekundäres Ich in Form eines „Körperpanzers“ erworben haben.
Figuren wie Mavrocordato oder Christopher aus „1979“, wie auch Masahiku Amakasu aus Krachts zuletzt erschienenem Roman „Die Toten“ entsprechen fast idealtypisch dem faschistischen, soldatischen Ich, das Theweleit schildert. Die kalte Grausamkeit der Kracht’schen Figuren wirkte auch vor diesem Abend schon verstörend. Sie zeigt sich nun aus dem Blickwinkel desjenigen, der sich anders als das Kind, das der Autor Christian Kracht einst war und das es nie wagte, sich zum Pastor, der es peinigte umzudrehen, das sich schließlich dem Leben im Internat total verweigerte, aus Verzweiflung Seife aß und im binge watching amerikanischer Serien der Zeit auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher eine Möglichkeit zum Exil, eine Zuflucht entdeckte, schreibend -- und in gewisser Weise „wider dem Verbot“ -- nach seinen Figuren „umgedreht“, ihre Hässlichkeit und Gemeinheit angeschaut hat.
Die traumatische Kindheitserfahrung im Sprechen und im Blick auf die Entstehung seiner Bücher genauer fassen zu wollen, den Missbrauch an dem phantasiebegabten Kind als eine entsetzliche Urszene des Schreibens zu deuten -- in diesem Konnex liegt das verstörendste und im Blick auf Krachts Werk erhellendste Moment des Abends.
Wohin, wenn ein Korsett gesprengt, einen Panzer abgeworfen ist? Die Enge ist dann weg und Kracht mag in gewissem Sinne auch Enge mitgemeint haben, als er über seine eigene Emigration nachdenkend davon sprach, der deutschen Sprache als der Sprache Adolf Eichmanns, der er beim Bäcker und Schlachter nicht täglich begegnen zu wollen, sie als „Korsett, enger als das von Marie Antoinette“ wahrnehme, und sie doch so liebe, dass er von ihr nicht loskomme, im Versuch, auf Englisch zu schreiben regelrecht „ausgerutscht sei“.
Am Ende las Kracht aus seinem seltsamen Kultbuch
Wenn Kracht an diesem Abend auch über die Gegenkräfte erwähnte, die in seinem Schreiben am Werk sind, die kindliche Spielfreude, über die produktive Kraft, die im „Pathos der Dinge“ liege und in ästhetischen Idealen wie dem japanischen „Mono no aware“ zu finden sei, das die Vergänglichkeit der Dinge zugleich feiert und betrauert, konnte man mitvollziehen, wie die Empfindlichkeit für das Ephemere dem Trauma eine träumerische Imagination entgegensetzt, wie sie sich zeigt in „Die Toten“ oder dem Film „Finsterworld“, unter Regie von Krachts Frau, Frauke Finsterwalder, an dessen Drehbuch Kracht mitgeschrieben hat.
Zum Ende der ersten Vorlesung las Kracht aus „Faserland“, legte den Zuhörern den Ausschnitt aus diesem seltsamen Kultbuch dessen, was unter dem Label „Popliteratur“ recht ungenau subsumiert wurde, unter komplett anderen Vorzeichen dar, wollte noch einmal „den Klang einer lang untergegangenen Welt hörbar machen“.
Krebse, die ihren nicht mitwachsenden Panzer verlassen, weil er ihnen zu eng geworden ist, sind in der Zeit (meist in den Sommermonaten), die es braucht, bis ihnen ein neuer gewachsen ist, sehr verletzlich. Der so oft angegriffene Christian Kracht hat sich mit seiner Antrittsvorlesung einmal mehr angreifbar gemacht. Wohin ihn dieses öffentliche Bekenntnis seiner traumatischen Kindheitserfahrungen schreibend führt, wird sich zeigen. Fest steht schon jetzt, dass man Christian Krachts Werk nach diesem Abend unter komplett anderen Vorzeichen neu betrachten muss.