Trauma-Ambulanz für Kinder, Jugendliche und ihre Angehörigen / Verein "Ankerland e.V." Hamburg
„Für mich sind meine Patienten Überlebenskünstler“
Es gibt Kinder, deren Namen kennt man nicht, und trotzdem schnürt es einem die Kehle zu, wenn von ihnen die Rede ist. Meist weiß man nur ihr Alter, vielleicht noch die Stadt, aus der sie stammen, doch wenn die Öffentlichkeit von ihnen erfährt, ist es längst zu spät. Die Abscheulichkeiten, die sie erleiden mussten, haben sich dann schon längst in das mediale Gedächtnis eingebrannt.
Der Fall des Neunjährigen aus Staufen ist so einer. Über Jahre hinweg von der eigenen Mutter und dem Stiefvater verkauft, für Vergewaltigungen freigegeben. Viele Fragen schießen einem durch den Kopf. Wie kommt es, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist? Und: Wie überlebt das ein Kind? Wie schafft es das Kind mit dem, was ihm angetan wurde, zu leben?
Andreas Krüger weiß Antworten auf diese Fragen. Vor zehn Jahren initiierte er die Gründung des Vereins Ankerland mit dem Ziel, mehr Therapieplätze und eine bessere Behandlung für schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche zu schaffen. Er gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der frühkindlichen Trauma-Behandlung und machte sich bereits zuvor mit dem Aufbau und der Leitung der Trauma-Ambulanz für Kinder, Jugendliche und ihre Familien am Universitätsklinikum Eppendorf einen Namen.
Krüger kennt Fälle wie die des Neunjährigen aus Stauffen, er weiß, dass sie die Spitze eines Eisbergs sind. Das Ankerland-Trauma-Therapiezentrum ist spezialisiert auf Opfer, die besonders schwer misshandelt wurden, deren Martyrium besonders lange andauerte und die bereits als Kleinkinder traumatisiert wurden. Etwa 50 von ihnen werden in der Villa in Eppendorf behandelt, die mit den vielen kleinen Vogelhäuschen im Vorgarten an die Villa Kunterbunt erinnert.
Der Ärztliche Leiter, Dr. Andreas Krüger, sitzt an einem runden Tisch, der etwas abseits von seinem Schreibtisch am Fenster steht. Der Mann, der diesen Ort geschaffen hat, trägt statt eines weißen Kittels eine Strickjacke über dem Hemd. Die Kriterien, nach denen er die jungen Patienten aufnimmt, nennt er „Lazarett-Prinzip“: „Wer eine Fraktur hat, kann warten, wer eine verletzte Halsschlagader hat, nicht“, so der Kinderpsychiater.
Die Sechsjährige, mit der er vorhin eine Sitzung hatte, ist solch ein dringender Fall. Was ihr angetan wurde, weist Parallelen zum Fall des Jungen aus Staufen auf. Weil diese Kinder geschützt werden müssen – vor der Öffentlichkeit, manchmal aber auch vor ihren Bezugspersonen –, sind manche von ihnen inkognito hier.
Es sind Mitarbeiter des Jugendamtes, der Kinderheime, aber auch Polizisten, Pflegefamilien oder Klinikärzte, die sich an das Trauma-Zentrum wenden, weil sie mit ihrem Latein am Ende sind. „In den wenigsten Fällen sind es die Eltern der Patienten, die sich an das Haus wenden. Schließlich sind sie oft selbst verstrickt, ja mitverantwortlich für das, was das Kind erleiden musste“, ergänzt Krüger.
Er besitzt die Fähigkeit, die Narben der Kinder zu sehen. „Die meisten Menschen, die mit ihnen in Kontakt kommen, können sie nicht sehen. Das führt dazu, dass sie etwa Verhaltensauffälligkeiten nicht zuordnen können und die Kinder wie Täter behandeln: Sie ecken an, rasten aus, tun anderen weh. Andere fallen auf, weil sie abgleiten in sogenannte dissoziative Zustände.
Um die Erinnerung auszuhalten, spaltet sich ihre Persönlichkeit auf in mehrere Ichs. So werden in dem Therapiezentrum auch Kinder behandelt, die sich an ihr erlittenes Leid nicht erinnern können, obwohl deren Realität bewiesen ist.
Seit fast drei Jahren arbeiten Krüger und sein Team mit ihm. Langsam reagiert er, wenn er angesprochen wird, hält Blickkontakt, beginnt zu sprechen, spielt. Eine herkömmliche Einrichtung könnte eine solche Langzeittherapie aus Kostengründen nicht leisten.
Das Trauma-Zentrum, das erste seiner Art, kann es – weil es sich aus Spenden finanziert. Eröffnet wurde es im April 2016. Bereits vor Eröffnung des Zentrums fungierte Ankerland als bundesweite Informationsstelle. Doch man will noch mehr erreichen: ein flächendeckendes Versorgungsnetzwerk für die kleinen Patienten aufbauen. Die öffentlichen Kostenträger werden diese Leistungen früher oder später übernehmen müssen, da ist Andreas Krüger optimistisch.
Der Grund ist zynisch. „Über mehrere Jahre eine erfolgreiche Therapie zu bezahlen, ist immer noch günstiger, als einen Menschen zu finanzieren, der langfristig keiner geregelten Tätigkeit nachgehen noch selbstbestimmt leben kann.“
Doch noch sieht die Realität anders aus. Die jungen Patienten müssen monate-, manchmal jahrelang auf einen Therapieplatz warten. Und der Bedarf wächst: Allein in Hamburg, so schätzt Andreas Krüger, leiden 5000 bis 10.000 Kinder und Jugendliche unter einer Trauma-Folgestörung. Dabei entscheidet die Dauer der Therapie über ihren Erfolg. „Je schwerer und früher die Traumata entstehen, desto langwieriger die Therapie“, sagt der Ärztliche Direktor von Ankerland.