Mondrian v. Lüttichau: THERAPIE ODER LEBEN ? – Begegnungen in der Akutpsychiatrie
Neuauflage November 2018 (mit einem Beitrag von Rosemarie Haase, Leipzig)
Bestandteil meiner Empfindungen und Erfahrungen während der dreijährigen Arbeit in verschiedenen Akut- und Subakutstationen eines psychiatrischen Krankenhauses (in Ost-Berlin) war die Selbstverständlichkeit, 'Außenseiter' zu sein und fast ausschließlich mit 'Außenseitern' zu tun zu haben, seit der Kindheit. – Gesellschaftliche Ordnungskategorien wie 'krank', 'gesund', 'Vorgesetzter', 'Untergebener', 'professionelle Beziehung', 'Arbeit', 'Hobby', 'Privatleben', 'Klient', 'Helfer' waren von daher für mich nie selbstverständlich, vielmehr habe ich dem Sinn jeder Begegnung situativ gerechtzuwerden versucht, egal mit wem. – Dabei war und bin keineswegs ich als 'Profi' immer der 'Helfende' und jemand mit 'psychischer Erkrankung' demgegenüber die oder der 'Hilfebedürftige'. – "Es sollte immer ein Geben und Nehmen sein, - nur dann kann ich Vertrauen haben zu einem Freund oder einem Therapeuten!" hat mir unlängst jemand gesagt..
Wer sich über psychische Frühtraumatisierungen (Bindungs-, Entwicklungstrauma) als Mitursache von Psychosen Gedanken machte, wurde damals, vor 20 Jahren, zumindest von psychiatrischen Profis meist belächelt. Daran hat sich einiges geändert. Dennoch wird im (sozial-) psychiatrischen Alltag Betroffenen mit psychotischen Eposoden und bekannten Frühtraumatisierungen noch immer ganz selbstverständlich (allenfalls) Verhaltenstherapie angedient: "zur Bewältigung ihrer Krankheit!" Die traditionellen Berührungsängste zwischen (defizitorientierter) Psychiatrie und (ressourcenorientierter) Psychotherapie tun ein übriges; psychotraumatologisch orientierte Diagnostik ist in der kommunalen Akutpsychiatrie, aber auch in der gemeindenahen Sozialpsychiatrie bis heute kaum zu erwarten. –
Besonders deprimierend war für mich die Situation von jungen Menschen, die offenkundig psychisch traumatisiert waren, meist (auch) durch sexuelle Gewalt bereits in der Kindheit. Mit einem derartigen Schicksal wurden sie in der psychiatrischen Akutstation alleingelassen. "Borderline" war bei den Ärztinnen und PsychologInnen kaum mehr als eine Schublade. (Daran änderte auch ein Borderline-Kongreß nichts, der in den 80er Jahren in Berlin stattfand und den traumagenetischen Zusammenhang verdeutlichte.) Eine junge Patientin, Amanda, berichtete mir viel von ihrem leidvollen Leben und gab mir den Anstoß, über niederschwellige Beratungsstellen für Traumaüberlebende nachzudenken. – Psychotraumatisierungen in Kindheit und Jugend sind seither zu meinem hauptsächlichen Arbeitsthema geworden. Daß ich Kind traumatisierter Eltern bin und von daher in gewisser weise selbst traumatisiert, ist mir erst schrittweise klargeworden, durch die Beschäftigung mit der entsprechenden Fachliteratur und durch die in Therapie oder Leben? skizzenhaft dargestellten Begegnungen.
Mitgenommen habe ich aus der Zeit in der Psychiatrie das Geschenk von Begegnungen, die mir bis heute Orientierung und Bestätigung sind. Noch immer Dankbarkeit, noch immer Trauer. - Mitgenommen hab ich die Erfahrung, daß es tatsächlich um Liebe geht, - und daß Liebe letztlich nur eines bedeuten kann: vorbehaltlose Achtsamkeit für ein Gegenüber, für die Menschen, für das Leben.
Die Neuausgabe 2018 wurde durchgesehen und erweitert um Abbildungen (aus der Gestaltungstherapie) sowie einen Anhang zum Gedächtnis an SONJA GERSTNER. Darüberhinaus enthält sie einen Beitrag von Rosi Haase (Leipzig): "Meine Erfahrungen mit der DDR-Psychiatrie" sowie Faksimiles eines Flugblattes des NEUEN FORUMS (November 1989) zur Situation von Psychiatrie-Betroffenen in Leipzig.