Franz X. Graf v. Zedtwitz: FELDMÜNSTER. Roman aus einem Jesuiteninternat
Franz Xaver Graf von Zedtwitz (1906 Wien – 1942 bei Sewastopol) war von 1915 bis 1920 Schüler des Jesuitengymnasiums Stella Matutina in Feldkirch (Österreich). Neben zoologischen Werken verfaßte Franz Zedtwitz erzählende Tier- und Jagdbücher. Seinen größten Erfolg erzielte er mit dem 1940 erschienenen, seit langem vergessenen und hier erstmalig wiederveröffentlichten Roman FELDMÜNSTER.
Der offensichtlich autobiografisch fundierte Roman spielt im Jahr 1919, seine Handlung liegt vorrangig in der seelischen Entwicklung des 15jährigen Robert als Zögling eines Jesuiteninternats. Liturgische Riten, Segenszeichen und Dogmen der katholischen Kirche werden den Schülern mit Wirkung einer seelischen Konditionierung oktroyiert. Der Autor vermittelt uns die immanente Logik dieses kirchlich-religiös begründeten Bedeutungssystems. Für die von ihren Eltern getrennten Kindern und Jugendlichen ist es allerdings nicht nur ein Gerüst sozialer Normen, wie wir alle es in der Kindheit gelernt haben; aufgrund der hermetischen (und strafbewehrten) Konditionierung im Zwangsalltag der Jesuitenschule wird diese Logik ihnen evident genauso, wie unter anderen Sozialisationsbedingungen die existenzielle Bedeutung der Mutter, etwas später auch des Vaters evident ist.
FELDMÜNSTER ist ein bedeutender Entwicklungsroman – allerdings mit einer Thematik, für die es heutzutage kaum mehr Interesse geben dürfte; zu Unrecht, denn das Wesentliche dieser Konstellation ist überzeitlich relevant, ist nicht beschränkt auf religiöse Sozialisationsformen. Die emotionale Innensicht eines menschenverachtender schwarzpädagogischer Konditionierung ausgesetzten Kindes ist selten derart subtil dargestellt worden. Die machtpervertierte katholische Dogmatik des damaligen Jesuiteninternats steht hier pars pro toto.
Kinder sind zur seelischen Entwicklung angewiesen auf erwachsene Bezugspersonenen, an denen sie sich – auch zu ihrem eigenen Schaden – orientieren. Die natürliche Sehnsucht junger Menschen nach Vertrauen, Geborgenheit, Zuwendung, Orientierung kann deshalb fast unbegrenzt mißbraucht werden; das gilt für einzelne bösartige Eltern genauso wie für kirchlich-religiöse Indoktrination, für politisch ideologische Sozialisation oder für die Konditionierung durch Gruppen der organisierten rituellen Gewalt. Aufgrund dieser entwicklungspsychologischen Gegebenheiten übernehmen Kinder die Regeln, Kriterien, Argumentationen und emotionalen Zuordnungen der Bezugspersonen; kindliche Opfer gewalttätiger Eltern verinnerlichen die Zuschreibungen ihrer Väter oder Mütter ("Du bist selber schuld!" – "Du warst böse, ich muß dich bestrafen!" – "Es ist zu deinem eigenen Besten!"). Wegen der entwicklungsbedingten Notwendigkeit einer konsistenten theory of mind (eines Weltbilds) vervollständigt, verdichtet das Kind, der Jugendliche zwangsmäßig vorgegebene ideologische Formeln zu einer affektiv-kognitiven "Welt", in der es, das Kind, die existenziell notwendige Geborgenheit findet.
FELDMÜNSTER ist ein ernstzunehmendes ethnographisches Quellenwerk – denn ein derart subtiler, kenntnisreicher Blick ins Seelenleben von Zöglingen einer Jesuitenschule vor 100 Jahren dürfte nicht noch einmal dokumentiert worden sein. Zudem ist dieser Roman eine kirchengeschichtliche Dokumentation, die vermitteln kann, wie katholische Dogmatik entgleisen kann zu selbstgerechtem Machtmißbrauch. (Dies erhält einen aktuellen Bezug zu den bekanntgewordenen Fällen von sexualisiertem Mißbrauch auch durch kirchliche Würdenträger.) Zedtwitz verzichtet auf jede plakativ-heroische Attitüde; in tiefem Einfühlungsvermögen vermittelt er in jeder Situation die unvereinbaren, ambivalenten, irritierenden Empfindungen junger Menschen angesichts solcher überfordernder Erfahrungen mit der Erwachsenenwelt. Zugleich ermöglicht es die souveräne sprachliche Gestaltung des Autors auch nichtchristlichen LeserInnen (wie mir), sich ansatzweise einzufühlen in das Lebensgefühl gläubiger Katholiken, wie beispielsweise einzelne Geistliche oder die Mutter des Protagonisten Robert.
Dieser Roman zeigt zwei miteinander verflochtene Entwicklungsprozesse: zum einen Roberts schrittweise Ablösung aus den Konditionierungen der katholischen Dogmatik (in ihrer pervertierten, machtorientierten Form), zum anderen das wachsende Selbstverständnis des Jungen als Künstler: als Maler. Nicht die gewalttätige Sozialisation, vielmehr Roberts über alle Schwierigkeiten hinweg sich entfaltende kreative Lebenskraft ist das unaufdringliche Leitmotiv dieses Romans; in zwiespältiger Weise steht es wohl auch für das im NS-Deutschland zerstörte kreative Leben des Autors.
Franz Zedtwitz hat außer diesem Roman 24 naturkundliche Bücher über Tiere in Wald und Flur veröffentlicht. Seine geschmeidige, farbige, flüssige und prägnante Sprache stand zweifellos immer im Dienst tiefer Achtsamkeit für das Leben. "Ehrfurcht vor dem Leben", Albert Schweitzers Satz, ist auch die Haltung des Franz Graf Zedtwitz. Seine Tierbücher sind antiquarisch noch erhältlich; besonders empfehlen möchte ich WUNDERBARE KLEINE WELT. DAS BUCH VOM HEIMISCHEN GETIER (Berlin 1934: Safari-Verlag).
Bei aller überragenden Qualität auch seiner Tierbücher läßt sich hinter dem Verzicht dieses Schriftstellers auf andersartige literarische Werke eine qualvolle innere Emigration ahnen: Nach einer Jugend in der Gewalt der katholischen Diktatur das (allzu kurze) Erwachsenenleben in der NS-Diktatur! Die letzte Tätigkeit als Frontberichterstatter kann ich nur als endgültige Resignation verstehen. Im Juni 1942 kam Zedtwitz um, innerhalb der Schlacht um Sewastopol, 36jährig. Daß FELDMÜNSTER offenbar von der Nazi-Agitation funktionalisiert werden konnte, war eine bittere Pointe, daß Franz Zedtwitz dann bis heute entweder vergessen oder, wo nicht, als NS Parteigänger zu gelten scheint, ist die bitterste Pointe.
(Nachwort 2019)