LEBEN IN MOLL. Marys Geschichte
Marys lakonischer Bericht über ihre schlimme Kindheit, kursierte in den Jahren ab 2000 im Netz. Vor allem Traumaüberlebende haben ihn weiterverbreitet, manchmal ausgedruckt. – Am Anfang einer Lebenskatastrophe stehen oft, wie bei Mary, familiäre Umstände, an denen niemand schuld hat. Eine Mutter stirbt. Der Vater steht alleine da mit den Kindern; die Stabilität seines Lebens ist zerstört. Sowas ist "normal"; abgesehen von administrativ vorgegebenen (finanziellen) Hilfen muß mit so einem Schicksalsschlag jeder allein fertigwerden. Marys Vater ist überfordet; Schritt für Schritt bricht seine Pesönlichkeit auseinander: Alkohol schläfert das Bewußtsein seines Versagens ein, krasser Eigennutz breitet sich aus. – Auf der anderen Seite stehen Jugendämter und Kinderheime, die zweifellos "ihre Pflicht erfüllen"… aber auch nicht mehr als das tun, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. – Der dritte Faktor sind potentielle Pflegeeltern, die aus durchaus unterschiedlichen Gründen Kinder annehmen wollen. So geht es weiter, Schritt für Schritt verlieren Kinder aus solchen Lebensumständen ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft, fühlen sich nur als Objekte unvorhersehbarer Mächte. Sie lernen, unter diesen Umständen – oft ohne auch nur eine Vorstellung von Geborgenheit, Zuwendung, Nähe – immerhin zu überleben.
Das reicht schon, um Menschen für ihr ganzes Leben irreparabel zu schädigen. Kinder aus solchen Sozialisationsbedingungen haben nicht gelernt, sich abzugrenzen – oder auch nur die Legitimität der persönlichen Abgrenzung zu spüren. Im allgemeinen gehen sie davon aus, daß sie "selbst schuld" sind, wenn ihnen von anderen Leid zugefügt wird. Oft mußten sie in der Kindheit lernen, schlimme Erfahrungen aus dem Bewußtsein abzuspalten (Dissoziation); so erkennen sie auch im späteren Leben gar nicht, wenn andere sich ihnen gegenüber menschenverachtend verhalten. Sie werden leicht zu hilflosen Opfern aller Formen von sexualisierter Gewalt.
Bis heute habe ich kaum andere Texte gefunden, die uns so hautnah die gnadenlose Hilflosigkeit, die Ausgesetztheit eines solchen Kindes (und seiner Geschwister) vermitteln könnten. Mary hat ihren Bericht für viele andere kindliche Opfer und erwachsene Überlebende geschrieben. Und er kann Mut machen.
(Nachwort)